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Öland

Öland

Titel: Öland
Autoren: Johan Theorin
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ÖLAND, SEPTEMBER 1972
    D ie Mauer bestand aus großen, runden Steinen, bedeckt von
     grauweißen Flechten, und war so hoch, wie der Junge groß
     war. Er konnte nur dann über sie hinwegsehen, wenn er sich
     in seinen Sandalen auf die Zehenspitzen stellte. Auf der anderen Seite war alles grau und neblig. Es hätte das Ende der
     Welt sein können, aber der Junge wusste, das Gegenteil war
     der Fall – die Welt begann auf der anderen Seite der Mauer.
     Die große Welt war nämlich jenseits von Opas und Omas Garten. Diese Welt hinter der Mauer zu entdecken hatte den Jungen den ganzen Sommer über gelockt.
    Zweimal hatte er über die Mauer zu klettern versucht,
     zweimal hatte er den Halt an den unebenen Steinen verloren
     und war ins feuchte Gras gefallen.
    Doch der Junge gab nicht auf, und beim dritten Mal gelang
     es ihm.
    Er holte tief Luft, zog sich hoch, hielt sich an den kalten
     Steinen fest und schaffte es auf die Mauer.
    Das war ein Sieg für ihn – er war fast sechs und im Begriff,
     zum ersten Mal in seinem Leben eine Mauer zu überwinden.
     Er blieb eine Weile oben sitzen wie ein König auf seinem
     Thron.
    Die Welt auf der anderen Seite war groß und grenzenlos,
     aber auch grau und verschwommen. Wegen des Nebels, der
     im Laufe des Nachmittags über die Insel gezogen war, konnteder Junge kaum etwas sehen von der Welt draußen. Aber unterhalb der Mauer sah er gelbbraunes Gras auf einer kleinen
     Wiese. Und etwas entfernt entdeckte er ein paar geduckte,
     knorrige Wacholderbüsche, neben denen bemooste Steine
     aus der Erde ragten. Der Boden war so eben wie im Garten
     hinter ihm, aber auf der anderen Seite sah alles viel wilder
     aus; fremd und verlockend.
    Der Junge setzte einen Fuß auf einen großen Stein, der zur
     Hälfte im Boden steckte, und kletterte auf die Wiese jenseits
     der Mauer hinab. Jetzt hatte er zum ersten Mal in seinem
     Leben allein den Garten verlassen, und keiner wusste, wo er
     war. Seine Mama hatte am Morgen die Insel verlassen. Sein
     Opa war vor einer Stunde zum Strand gegangen, und als der
     Junge seine Sandalen genommen und sich aus dem Haus
     geschlichen hatte, schlief seine Oma.
    Er konnte tun und lassen, was er wollte. Er war mitten in
     einem großen Abenteuer.
    Er ließ die Mauersteine los und machte einen Schritt in das
     wilde Gras. Es wuchs spärlich, man kam mühelos voran. Er
     lief weiter, und die Welt vor ihm wurde langsam deutlicher.
     Am Ende der Wiese nahmen die Wacholderbüsche Form an,
     und er ging auf sie zu.
    Der Erdboden war weich und dämpfte alle Geräusche,
     seine Schritte waren nur ein schwaches Rascheln. Selbst als
     er probierte, mit beiden Füßen hochzuspringen und fest auf
     den Boden zu stampfen, machte es nur leise ›fump‹. Und wenn
     er seinen Fuß hochnahm, richtete sich das Gras darunter wieder auf, und seine Spur verschwand augenblicklich.
    So bewegte er sich ein paar Meter voran: Hüpf, fump.
     Hüpf, fump.
    Als der Junge die Wiese überquert und die Wacholderbüsche erreicht hatte, hörte er auf zu hüpfen. Er atmete aus, sog
     die kühle Luft ein und sah sich um.
    Während er durch das Gras gesprungen war, hatte sichder Nebel, der vor ihm gelegen hatte, unbemerkt um ihn
     herumgeschlichen und war nun auch hinter ihm. Die Steinmauer hinter der Wiese war nur noch verschwommen zu erkennen und das dunkelbraune Sommerhäuschen ganz verschwunden.
    Einen kurzen Moment überlegte der Junge, ob er umdrehen, zurückgehen und wieder über die Mauer klettern sollte.
     Er besaß keine Uhr, genaue Uhrzeiten bedeuteten ihm nichts,
     aber der Himmel über ihm war inzwischen dunkelgrau und
     die Luft noch ein bisschen kälter geworden. Er wusste, dass
     der Tag zu Ende ging und bald die Nacht hereinbrechen
     würde.
    Er wollte nur noch ein kleines Stückchen über den weichen Erdboden gehen. Er wusste ja, wo er war; das Häuschen, in dem seine Oma schlief, befand sich hinter ihm, auch
     wenn er es nicht mehr sehen konnte. Er lief weiter auf die verschwommene Nebelwand zu, die man sehen, aber nicht
     greifen konnte. Sie rückte wie durch Zauberhand immer ein
     Stück weiter, als würde sie mit ihm spielen.
    Der Junge blieb stehen. Er hielt die Luft an.
    Alles war still, nichts rührte sich, aber der Junge hatte auf
     einmal das Gefühl, nicht allein zu sein.
    Hatte er Geräusche im Nebel gehört?
    Er drehte sich um. Jetzt konnte er weder Mauer noch Wiese
     sehen, nur Gras und die Wacholderbüsche. Sie standen reglos
     um ihn herum, und er wusste,
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