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Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)

Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)

Titel: Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
Autoren: Udo Reiter
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Nachmittagen in Wasserburg am Bodensee beibrachte, wie Mathematik funktioniert. Dort, auf einer malerischen Halbinsel, war 1927 Martin Walser geboren worden. Er ging, wie wir, ins Lindauer Gymnasium, seine Eltern führten die Wasserburger Bahnhofswirtschaft. Er hat der Bodenseelandschaft in vielen seiner Bücher ein literarisches Denkmal gesetzt. Vor allem sein autobiographischer Roman »Ein springender Brunnen«, eines seiner schönsten Bücher, hat den Zauber dieser Zeit und dieser Landschaft eingefangen. Ich habe Martin Walser später beim Bayerischen Rundfunk kennengelernt. Er hat mich wegen meiner Sprache sofort als Landsmann identifiziert und irgendwann sogar nachfragen lassen, ob ich nicht eine Rolle in einem Hörspiel übernehmen könnte. Er suche jemanden mit einem südallgäuer Dialekt. Leider ist daraus nichts geworden, sonst wäre ich womöglich in die Weltliteratur eingegangen.
    Als das Abitur ins Haus stand, kam mir, was die Noten anging, auch noch der Zufall zur Hilfe. Ich habe im letzten Schuljahr besagter Ursula Weyermann bei einem Hausaufsatz geholfen. Es ging um eine Interpretation des Gedichts »Stufen« von Hermann Hesse. In Deutsch war ich ohnehin gut, und weil ich ihr imponieren wollte, hab ich mich noch besonders ins Zeug gelegt. Ich las Sekundärliteratur und wurde zum »Stufen«-Fachmann. Als ich am Deutsch-Abiturtag die Aufgaben aufschlug, traute ich meinen Augen kaum. »Interpretieren Sie das Gedicht »Stufen« von Hermann Hesse« stand da. Das war ein »gmahts Wieserl«, wie man in Bayern sagt. Ich erwähnte in der Einleitung beiläufig, dass Hesse das Gedicht 1941 in Montagnola verfasst habe und dass es im »Glasperlenspiel« vorkomme. Dannhabe ich es feinfühlend gedeutet und behutsam als typisch Hesse’sche »Kleiderhaken-Literatur« kritisiert – Literatur als Haken, an dem der Dichter seine Weltanschauung aufhängt. Nicht schlecht für einen Schulaufsatz. Die Note war entsprechend.
    Ich habe damals (nicht nur wegen der »Stufen«) das beste Abitur meines Jahrgangs gemacht und bekam nach einer zusätzlichen Aufnahmeprüfung das »Bayerische Stipendium für besonders Begabte«, das mir ein Studium ermöglichte, von dem ich nicht weiß, ob es bei den begrenzten finanziellen Mitteln meiner Eltern sonst überhaupt möglich gewesen wäre.
    Schwierig war die Wahl eines Studienfachs. Meine Noten waren in allen Fächern (außer Musik) gleich gut. Vermutlich wegen des allseits gelobten Abituraufsatzes entschied ich mich für Germanistik. Als Nebenfächer nahm ich, das war so üblich, Geschichte und Politische Wissenschaft. Damit konnte man Lehrer für Deutsch, Geschichte und Sozialkunde werden. Warum auch nicht. Besser als Arbeiter bei Dornier.

Rohtraut, Schön-Rohtraut
    Ich begann mein Studium in München an der Ludwig-Maximilians-Universität. Gewohnt habe ich in der Ungererstraße in Schwabing. Dort konnte ich von Klaus Grandt, meinem späteren Schwager, der gerade sein Studium abgeschlossen hatte, das Zimmer übernehmen, und zwar in Untermiete bei Frau Kagerer, einer älteren Witwe, die ein paar Straßen weiter einen kleinen Käseladen betrieb. Der »Schulweg« war optimal. An der Münchner Freiheit vorbei, die Leopoldstraße hinunter, wo gleich hinterm Siegestor die Universität lag. Dies Zuhause im Herzen von Schwabingam Rand des Englischen Gartens war nicht nur tagsüber attraktiv. Als Student der Geisteswissenschaften war man dort auch abends gefordert. Es gab damals noch eine gewisse Boheme in Schwabing, Studenten, Intellektuelle, Künstler, und wenn man im Mutti-Bräu, im Leierkasten oder im Alten Simpl (dem früheren Simplicissimus) die Nächte durchmachte, konnte man sich auf den Spuren eindrucksvoller Vorgänger fühlen. Erich Mühsam hatte das ebenso gemacht wie Lion Feuchtwanger, Christian Morgenstern, Ludwig Thoma, Heinrich Mann oder die Gräfin Reventlow.
    Ganz ohne schmerzliche Brüche verlief der Übergang vom Gymnasiasten aus der Provinz zum Lebemann in der bayerischen Metropole allerdings nicht. Einmal habe ich die Ursula Weyermann, die jetzt auch in München studierte, und ihre ältere Schwester Erika, die dort verheiratet war, zum Essen ausgeführt, und zwar in den Wienerwald. Diese Hähnchen-Lokale waren damals gerade neu aufgekommen und galten als etwas Besonderes. Ich hatte mir ein paar Mark aus meinem Monatsbudget erwirtschaftet und wollte den beiden Damen zeigen, dass auch jemand aus Rickenbach Lebensart hatte. Dabei habe ich allerdings einen Umstand außer Acht
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