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Geschichten aus der Müllerstraße

Geschichten aus der Müllerstraße

Titel: Geschichten aus der Müllerstraße
Autoren: be.bra Verlag , Hinark Husen , Robert Rescue , Frank Sorge , Volker Surmann , Heiko Werning
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anstatt mit ihren prallen Einkaufstaschen vollbepackt die Umlaufzeiten der Ampeln abzuwarten. Für den Pkw-Fahrer hat dies auch Vorteile. Mit etwas fahrerischem Geschick kann man sich den eigenen Wocheneinkauf sparen und stattdessen ein paar gut gefüllte
real
-Tüten auf der Kühlerhaube sammeln.
    Siebte Hürde: Die obere Müllerstraße
    Jetzt hat man es geschafft. Bis zum U-Bahnhof Rehberge bleibt man am besten auf dem linken Fahrstreifen, weil rechts immer wieder 3er BMWs in zweiter Reihe halten, um
real
-Tüten von der Motorhaube in den Kofferraum umzuladen.
    Anschließend besteht die größte fahrerische Herausforderung darin, nach zwei Kilometern Müllerstraße-Fahren auf plötzliche Ereignislosigkeit umzuschalten. Die Fahrzeuge mit Hybridantrieb aus Ottokraftstoff und Testosteron scheinen ähnliche Anpassungsprobleme zu haben und nehmen den U-Bahnhof Rehberge als Startlinie für erste Wettfahrten untereinander. In solche Rennen sollte man tunlichst nur einsteigen, wenn man über ähnliche Antriebe und Karosserien verfügt, ansonsten empfiehlt es sich, diese Ben-Hur-ähnlichen Gespanne ziehen zu lassen und spätestens beim Straßenschild »Scharnweberstraße« eine kleine, beruhigende Meditation einzulegen:
    Kraftfahrer Du, voll Wagemut
,
    Der Müllerstraße zolltest Du Tribut
.
    Nun rauschst Du raus gen Tegel – frei
.
    Dachtest Du, doch denk dabei:
    Berlins Verkehr ist polymorph
,
    Vorsicht in Reinickendorf
.

Robert Rescue
Die Trägheit der Masse
    Vor mir an der Kasse bei
Aldi
in der Müllerstraße steht Herbert. Ob er wirklich so heißt, weiß ich nicht, ich nenne ihn einfach mal so. Herbert ist vermutlich arbeitslos, was ich an seinem Aussehen festmache. Sein Äußeres erweckt nicht den Anschein, als würde er an einer Rezeption arbeiten oder als Verkäufer im Baumarkt. Herbert verlässt wohl auch kaum noch das Haus. Herbert riecht wie seine Wohnung oder anders gesagt, er riecht so, als würde er keinen Wert darauf legen, anders zu riechen als sonst, wenn er mal das Haus verlässt. Dass ich direkt hinter Herbert an der Kasse stehe, ist noch nie passiert. Meist stehe ich irgendwo hinter ihm oder an einer anderen Kasse und beobachte ihn.
    Herbert gehört zu den vielen Weddingern, die entweder von Physik noch nie was gehört haben oder das Auftreten physikalischer Vorgänge im Wedding ignorieren. Er packt seinen Einkauf auf das Band, Kaffee, Milch, eine Packung Reis und drei Weinflaschen. Er
stellt
die Weinflaschen jedes Mal auf das Band und gehört damit zu dem Teil der Bevölkerung, der aus all seinen Einkäufen beim Discounter nichts gelernt hat und auch in Zukunft nichts lernen wird. Herberts Verstand sitzt vermutlich zu Hause auf der Couch und schaut fern. Das Laufband bewegt sich ein Stück und die Weinflaschen fallen um. »Verdammte Scheiße, was soll dit denn?«, höre ich Herberts tiefe, verrauchte Stimme.
    Das Band steht wieder still und Herbert stellt die Flaschen wieder hin. Früher hatten wir im
Aldi
einen Filialleiter, den Herrn Majakowski, der hat ein solches Fehlverhalten rücksichtslos geahndet. Wenn der mal an der Kasse saß und einer der Kunden stellte seine Flaschen auf das Band, dann hat er sie lautstark aufgefordert, diese gefälligst hinzulegen. Der Herr Majakowski hat das Band und die Waren, die sich auf ihn zubewegten, noch im Blick gehabt, aber seitdem er weg ist, interessiert das die Kassierer nicht mehr.
    Das Band ruckt wieder ein Stück nach vorne und Herberts Flaschen fallen erneut um. Missmutig stellt er sie wieder hin. Herbert gehört zu denen, bei denen die Flaschen zweimal umfallen müssen, bis sie einen gewissen temporären Lernerfolg erleben und auf Stufe 2 aufsteigen. Die meisten Flaschenhinsteller sind in ihrem Scheitern mit sich selbst beschäftigt und erleben keine Aufmerksamkeit der anderen, außer eine Flasche fällt auf den Warentrenner oder gar auf die Einkäufe des vor oder hinter ihnen Befindlichen. Dann ist die Hölle los, denn nichts ist dem deutschen Discounterkunden so heilig wie die Abtrennung seiner Einkäufe durch den Warentrenner. Wie ich Herbert so beobachte, komme ich wie immer auf die Idee, ihn anzusprechen und ihn auf seinen Fehler hinzuweisen. Ich tue es natürlich nicht, aber in Gedanken male ich es mir aus.
    Ich würde ihn darauf hinweisen, dass auf seine Weinflaschen ein physikalisches Grundprinzip wirkt und dass sie immer umfallen werden, wenn sich das Band bewegt. Ich könnte ihm erklären, dass die Trägheit eine Eigenschaft von Körpern ist,
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