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Geschichten aus der Müllerstraße

Geschichten aus der Müllerstraße

Titel: Geschichten aus der Müllerstraße
Autoren: be.bra Verlag , Hinark Husen , Robert Rescue , Frank Sorge , Volker Surmann , Heiko Werning
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die in ihrem Bewegungszustand verharren, solange keine äußere Kraft auf sie einwirkt. Solange das Laufband steht, wirkt keine äußere Kraft auf die Weinflaschen ein. Ob Herbert das verstehen wird und ihm, ohne dass ich weiter etwas sagen muss, ein Licht aufgeht? Wahrscheinlich wird er mich dumm anglotzen und ich könnte weiter ausführen, dass jedes Objekt, also auch jede einzelne Weinflasche eine Masse hat und je größer die träge Masse eines Körpers ist, desto weniger beeinflusst eine auf ihn einwirkende Kraft seine Bewegung. Als Beispiel werde ich ihm erklären, dass ein Sechser Pack Ein-Liter-Wasserflaschen der Kraft, die durch das Laufband wirkt, weniger anhaben kann, sprich, der Träger wird nicht umfallen.
    Mit ironischem Unterton könnte ich darauf hinweisen, dass die träge Masse auch eine Trägheit der Masse ist und dass er damit vielleicht mehr anfangen kann, denn seine Unfähigkeit, das physikalische Prinzip zu erkennen und entsprechend zu handeln, ist auch eine gewisse Trägheit und dass sich Herbert mit seiner geistigen Trägheit in großer Gesellschaft befindet, wird ihm sicherlich auch einleuchten. Wahrscheinlich werde ich ihm das Letztere nicht erzählen, denn die Ironie wird er nicht verstehen und eher anfangen, auf mich einzuschlagen. Es ist gut möglich, dass meine vorherigen Ausführungen ihn dazu bringen werden, die Weinflaschen hinzulegen, so wie er es jetzt auch macht, ohne dass ich ihm dazu geraten habe. Logisch, wird er sich jetzt denken, wenn sie schon liegen, dann können sie nicht mehr fallen. Hätte er diesen grundsätzlichen Gedanken gedacht, als er die Waren auf das Band gestellt hat, dann hätte er sich nicht aufregen müssen.
    Jetzt aber passiert der zweite Fehler, den seinesgleichen so oft machen. Sie legen die Flaschen quer auf das Band. Steht das Band still, ist das der Flasche egal. Ruckt das Band aber an, so wirkt die Kraft des Bandes auf die zylinderförmige Weinflasche und bewegt sie. Die Weinflaschen rollen nach hinten auf den Warentrenner des hinter Herbert stehenden Kunden zu und wenn das Band stoppt, rollen sie wieder nach vorne und stoßen zusammen. Der hinter ihm befindliche, das bin also diesmal ich, wird auf den Angriff gegen seine Einkäufe nicht gut zu sprechen sein und entweder denken oder rufen: »Suffkopp! Halt mal deinen Alk zusammen!«, und Herbert versinkt vor Scham fast im Boden. Herbert dreht sich zu mir um, murmelt ein »Tschuldigung« und rollt seine Flaschen nach vorne.
    Ein Lernerfolg wäre es, wenn er jetzt vor und hinter die Flaschen seine Packung Milch und den Kaffee legen würde, denn dann würden die Flaschen nicht mehr rollen. Aber das tut er nicht. Auch hier könnte ich Herbert ein paar Erklärungen geben und dabei Begriffe wie »Rotation« und »Drehmoment« einbauen und das Ganze noch mit ein paar Formeln untermauern, aber ich fürchte, damit würde ich Herbert überfordern. Auf die Idee, die Flaschen entgegengesetzt zur wirkenden Kraft zu legen, kommt er nicht. Er könnte einen Blick auf meinen Einkauf werfen und sehen, dass meine zwei Weinflaschen so liegen, dass sie sich nicht bewegen. Er könnte das sehen, es mir gleichtun und daraus eine Erkenntnis ziehen. Endlich kommt sein Einkauf bei der Kassiererin an und während sie die Flaschen über den Scanner zieht, überlegt Herbert, künftig auf Sechserträger Bier umzusteigen.
    An der zweiten geöffneten Kasse steht derweil Oma Inge und überlegt sich, warum die Wasserflasche ständig umfällt, während sie sich in kleinen Schritten auf der Höhe ihres Einkaufes bewegt und somit vor ihr viel Leerraum zur Kasse entsteht, während sich hinter ihr die Kunden drängeln. Oma Inge fällt ein, dass sie jedes Mal darüber nachdenkt, wenn sie bei
Aldi
eine Flasche Wasser einkauft, und ihr wird klar, dass sie wie jedes Mal keine Antwort darauf findet.
    Kurze Zeit später verlassen beide den Markt und haben den Vorfall schon vergessen. Morgen kommen sie wieder und dann geht das Spiel von vorne los. Es wird sich so lange wiederholen, bis beide und viele andere sich Gedanken machen oder die Kräfte der Physik resignieren und sich aus dem Wedding zurückziehen.
    Was dann passiert, können sich Herbert und Oma Inge vermutlich nicht mal vorstellen.

Hinark Husen
Mein Wedding
    Natürlich könnte ich mir auch vorstellen, woanders zu wohnen. Habe ich ja schließlich auch: zwanzig Jahre im nördlichen Münsterland, zwei Jahre in der tiefsten niedersächsischen Pampa, offiziell auch Südoldenburger Land
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