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Geschichten aus der Müllerstraße

Geschichten aus der Müllerstraße

Titel: Geschichten aus der Müllerstraße
Autoren: be.bra Verlag , Hinark Husen , Robert Rescue , Frank Sorge , Volker Surmann , Heiko Werning
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Heiko Werning
Walpurgisnacht Wedding
    Erstaunt stehe ich vor einem dieser großen, grauen Kästen, die überall herumstehen und in denen irgendwas mit Strom oder Telefon drin ist. Auf diesem Kasten hier, auf dem Mittelstreifen, mitten im Wedding, prangt ein neues Plakat: In zeitloser Optik steht eine weiße Faust auf schwarzem Grund, in roter Schrift steht daneben: »Nimm, was dir zusteht!« Ach, mir wird ganz warm ums Herz. Lange nicht mehr gesehen: Echte Autonomen-Folklore. Was dem Bayern Oktoberzelt und Lederhose und dem Rheinländer der Rosenmontag, sind dem Berliner bekanntlich seine putzigen Antikapitalisten samt zugehörigem Karnevalszug, der hier traditionell am Mai-Feiertag abgehalten wird. Man muss die Feste eben feiern, wie sie fallen. Und im fortgeschrittenen Frühjahr ist es auf jeden Fall erheblich wärmer als beim doch oft ungemütlich kalten Karneval, da haben die Autonomen einen Sinn fürs Praktische bewiesen.
    Was mich allerdings irritiert, ist die Ortsangabe auf dem Plakat: Geladen wird zur Molotowcocktailparty, anlässlich der Walpurgisnacht diesmal nicht nach Prenzlauer Berg oder Friedrichshain, sondern, tatsächlich, in den Wedding. Was wollen die denn hier?
    Sie wollen, so entnehme ich später einem Aufruf, gegen die Gentrifizierung demonstrieren. Da ist es natürlich klug, dorthin zu gehen, wo es noch gar keine Gentrifizierung gibt. Quasi prophylaktisch. Es gebe allerdings, informiert mich der Aufruf, deutliche Anzeichen für Gentrifizierung auch im Wedding. Das würde mich ja mal etwas genauer interessieren. Was meinen die da bloß?
    Zum Essen bin ich mit Bernhard im
Saray
verabredet. Ich berichte ihm von der bevorstehenden revolutionären Walpurgisnacht.
    »Die nennen das wirklich Walpurgisnacht?«, wundert er sich, »das Wort kennt hier doch keine Sau!«
    In der Tat, hier scheint ein gewisser Zielgruppenkonflikt zu herrschen. Dabei ist der Aufruf zur »Walpurgisnacht Wedding« sogar eigens auch in Türkisch, Arabisch und noch irgendwelchen Sprachen gehalten. Walpurgisnacht. Dafür gibt’s doch auf Arabisch bestimmt gar kein Wort. Na ja, wer weiß, was da tatsächlich steht. Vielleicht ja was gegen Gentrifizierung. Ich frage Ahmed, der uns ein Bier bringt: »Steht da Walpurgisnacht?«
    Er staunt.
    »Was ist Walpurgisnacht?«
    »Walpurgisnacht ist gegen Gentrifizierung«, informiert Bernhard ihn gelangweilt.
    »Was ist Gentrifizierung?«, fragt Ahmed.
    »Gentrifizierung ist, wenn Leute mit Geld hierher herziehen.«
    »Das ist gut!«, sagt Ahmed, »wenn mehr Leute mit Geld herziehen, können wir mehr Döner verkaufen. Aber hier ist niemand mit Geld. Hier ist Wedding.« Wir zucken mit den Schultern.
    Der türkische Satz auf dem Flugblatt lautet dann übrigens doch nur »Gegen soziale Diskriminierung und rassistische Provokation«, übersetzt Ahmed für uns. Gegen die Gentrifizierung sollen offenbar nur die Deutschen demonstrieren, wahrscheinlich, weil der türkische und arabische Teil der Bevölkerung gar nichts gegen ein bisschen Gentrifizierung hätte, wenn man sie fragen würde.
    »Gentrifizierung!«, knurrt Ahmed, »wo soll denn hier Gentrifizierung sein?«
    »Vielleicht«, mutmaßt Bernhard, »das
L’Escargot
? Da gibt’s wirklich gutes Essen!«
    »Na ja«, gebe ich zu bedenken, »aber das
L’Escargot
gab’s 1991 auch schon, als ich hierhergezogen bin. Und da war das Essen auch schon gut.«
    »Aber da hieß das noch nicht Gentrifizierung«, beharrt Bernhard, »da hieß das noch gutes Essen.«
    »Hier auch gutes Essen!«, merkt Ahmed zu Recht an. »Aber hier nicht Gentrifizierung.« Kopfschüttelnd verlässt er unseren Tisch.
    Im
Tagesspiegel
ist die Route des Demonstrationszugs veröffentlicht. Sie verläuft direkt hier über die Müllerstraße und dann noch etwas durch die umliegenden Wohngebiete.
    »Scheiße«, knurrt Bernhard, »das ist mitten auf meinem Nachhauseweg von der Kneipe. Und das vorm 1. Mai! Da hört der Spaß aber mal auf, wenn da dann alles abgesperrt ist wegen den antikapitalistischen Kasperln.«
    Ich bin auch nicht sicher, ob der Bewegung hier sehr große Sympathie entgegenschlagen wird. Gut, sie rechnen wahrscheinlich gar nicht groß damit, dass Weddinger bei der Party mitmachen. Dafür spricht auch der Treffpunkt S-Bahnhof Wedding, praktisch die Direktverbindung nach Friedrichshain/Kreuzberg. Ein weiterer Flyer empfiehlt den Teilnehmern, vermummt zu erscheinen. »Und dann …«, gibt sich der Zettel geheimnisvoll, aber das Rätsel ist nicht sehr schwierig, das
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