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Geschichten aus der Müllerstraße

Geschichten aus der Müllerstraße

Titel: Geschichten aus der Müllerstraße
Autoren: be.bra Verlag , Hinark Husen , Robert Rescue , Frank Sorge , Volker Surmann , Heiko Werning
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ausgekostet werden. Schwungvoll schiebe ich meinen Einkaufswagen an grübelnden Kriegsgenerationen vorbei, die stundenlang darüber sinnieren, ob sie jetzt die Katenrauchwurst in den Wagen legen oder nicht. Lebendplastinate von Hagen sozusagen.
    Das gleiche Bild an der Kasse, die alte Dame möchte unbedingt passend zahlen und vergräbt sich mit der Lesebrille in ihr Portemonnaie, sie gehört noch nicht zu dieser begrüßenswerten Generation aufgeklärter Seniorinnen, die einfach den Inhalt des Geldbeutels in die zum Becher geformten Hände der findigen Kassiererin ergießt, damit die gewiefte Münzexpertin die richtigen Werte einfach herausfischt. Das wäre vielleicht auch mal eine Job-Idee. In den USA gibt’s die Eintüter, wie wäre es bei uns mit einem menschlichen Münzvorsortierer. Oma gibt einfach ihr Kleines in der Kassenschlange ab und der Vorsortierer kann dann blitzeflink den passenden Centbetrag auszahlen. Aber Oma fühlt sich wahrscheinlich von lauter Aasgeiern umringt, die es nur auf ihren Pfandbon abgesehen haben.
    Ich bleibe gelassen, ich habe Zeit, es ist halb zehn und eigentlich liege ich ja noch mindestens bis elf Uhr arbeitslos im Bett. Tatsächlich beginnt der ältere Herr vor mir jetzt doch ein bisschen ungeduldig zu werden.
    »Haben Sie’s denn bald?«, fragt er die stöbernde Dame und diese reagiert erstaunlich schnell, aber auch ein wenig irritierend. Ihr fehle nur noch ein zwei Pfennig-Stück. Der Opa vor mir erwidert erstaunlicherweise gar nichts auf diese bemerkenswerte Aussage. Die Kassiererin starrt nur auf ihre Fingernägel, als ob ein Mini-DVD-Player darin implantiert wäre, der gerade einen Ingmar-Bergmann-Klassiker abspielt, den die junge Kassiererin nicht im Geringsten versteht, aber der Film scheint ihr beim Abschalten zu helfen, auch sie hat keine Replik auf die Zwei-Pfennig-Aussage der betagten Kundin.
    Ich gehe mal davon aus, die Dame sucht tatsächlich nach einem Zwei-Cent-Stück, vielleicht hat sie aber auch schon umgerechnet und meint in Wirklichkeit ein Ein-Cent-Stück. Worst case wäre, sie sucht wirklich nach einem Zwei-Pfennig-Stück, aber das wollen wir mal nicht annehmen.
    Um zehn bin ich wieder im heimischen Innenhof, um mein Fahrrad abzuschließen. Ich sollte öfter im
Aldi
Müllerstraße früh einkaufen, man fühlt sich so jung. Hinter dem Fahrradständer sitzt eine Amsel auf dem Nest: Auch ganz schön früh dran, sag ich zur männlichen Schwarzdrossel. Ganz in der Nähe sitzt ein weiterer Hahn und schimpft vor sich hin. Sein Kumpel auf dem Nest lässt ihn gewähren. Moment mal: Kein Weibchen weit und breit zu sehen. Da niemand weiteres im Hof ist, formuliere ich meine Überlegungen laut: »Sag mal, seid ihr schwul?«
    Keine Antwort, nur das zweite Männchen schimpft weiter.
    »Ok«, sage ich, »ich werde es niemandem verraten, aber ihr solltet wissen, das mit dem Kinderwunsch, das wird so nichts.«
    Ich habe keine Ahnung, ob schwule Amseln intelligenter sind als Heteros, der Anblick des Hahns auf dem Nest lässt allerdings anderes vermuten. Das wird ein harter Frühling für euch, so viel kann ich verraten.
    In der Wohnung angekommen befrage ich das Internet nach schwulen Amseln. Es gibt immerhin sechs Einträge, aber nur ein Freak aus »Florenz am Rhein« berichtet tatsächlich über ein schwules Amselpärchen in seinem Garten. Über den Rest möchte ich lieber schweigen.
    Ich lege mich nach dem Frühstück wieder hin, auf ein kleines Mittagsschläfchen, und wache um fünf wieder auf. Na, Gott sei Dank, habe ich den Tag doch noch ordentlich vergammelt. Draußen singt die Amsel noch ein kleines Liedchen für ihren Kerl. Schöner Tag, kann man nicht anders sagen.

Volker Surmann
Die sieben Hürden der Müllerstraße (4–7)
    Vierte Hürde: Zwischen Leopoldplatz und Seestraße
Bekanntlich werden bei Bayer-Schering am südlichen Ende der Müllerstraße hauptsächlich Anti-Babypillen, andere Hormon-, insbesondere Testosteronpräparate hergestellt. Ich hege seit Längerem den Verdacht, dass bei einigen sorgsam vertuschten Störfällen Teile des Weddings damit kontaminiert wurden, was nicht nur die Dauerbaustelle vor der S-Bahnbrücke erklären würde, sondern auch das Fahrverhalten zahlreicher Jungweddinger.
    Da könnte durchaus eine Überdosis Testosteron ursächlich sein oder aber ein Zuviel an weiblichen Hormonen lässt männliche Zeitgenossen vermehrt zu karosserieindizierter PS-Kompensation greifen. Das Schaufahren auf diesem Abschnitt, dem Ku’Damm des Weddings,
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