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Geschichten aus der Müllerstraße

Geschichten aus der Müllerstraße

Titel: Geschichten aus der Müllerstraße
Autoren: be.bra Verlag , Hinark Husen , Robert Rescue , Frank Sorge , Volker Surmann , Heiko Werning
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genannt, und last not least drei satte Monate in Schöneberg. Schöneberg, ja da bin ich berlin-technisch sozialisiert worden. Da habe ich meine Berliner Kinderstube her und ich glaube, dass mir diese Tatsache auch gelegentlich noch anzumerken ist, wenn ich mal auf der Straße laut und vernehmlich »Guten Tag« sage oder im Anzug aus dem Haus gehe.
    Zugegeben, das sind eher seltene Momente, diese Schöneberger Manieriertheiten lasse ich auch gerne zu Hause. Vor Jahren hat mir meine Mitbewohnerin zum ersten Tag meiner Arbeitslosigkeit folgendes Geschenk gemacht: ein Unterhemd der Marke Schießer Doppelripp, eine dunkelgraue Jogginghose von Wulle, ein Sechserträger Schultheiss sowie eine Karte mit der Widmung »Jeder Stil braucht seine Accessoires«. Das ist zweifelsfrei richtig und gerade im Wedding kommt es, wenn Arbeitslosigkeit stilecht gelebt werden will, auf diese Accessoires auch an.
    Die sechs Flaschen waren am frühen Abend geleert, doch Durst bestand weiterhin. Jogginghose an, Oberhemd aus und ab in die Stampe mit den Riemensandalen an den Füßen, es war ein lauschiger Sommerabend.
    In der Kneipe angekommen, musste ich allerdings schnell feststellen, dass mein Outfit bei meinen Bekannten tatsächlich auf reichlich Irritationen stieß. Nicht dass man mich eher bürgerlich gekleidet kennen würde, aber diese popanzartige Verwandlung konnten sie denn doch nicht ganz nachvollziehen, worauf ich den ganzen Tresen zusammenschrie: »Ja, ist det hier ’ne verlauste Studentenspelunke, kann man hier nicht ’ne Molle und ’n Korn zischen, ohne hirnmäßig unterwandert zu werden?«
    Die Formulierung »hirnmäßig unterwandert« fanden die Kollegen am Tresen dann doch so gelungen, dass sich für diese exotische Eskapade gleich noch der ein oder andere Bierspender fand. Es war ein recht vergnüglicher Abend, der schon kurz darauf den Weg in die Annalen der immer wieder erzählten Kneipenanekdoten fand, unter dem Titel: »Wie Hinark mal ein echter Weddinger werden wollte«.
    Nur gut, dass es in dieser lauwarmen Nacht nicht noch zu einem Aufeinandertreffen mit einer dieser arabischen Jungscliquen kam, ich weiß nicht, ob ich den Heimweg dann so schadlos überstanden hätte. Nun, nichts gegen unsere kleinen, schwarzhaarigen Prinzen mit den coolsten Koteletten, aber in Gruppen dann doch leider oft ein hormonell bedingter kollektiver Atavismus, der da herumlümmelt. Ponys, die sich wie Vollbluthengste gerieren. Immerhin verdanken wir ihnen die doch relativ geringe Anzahl hohlköpfiger Neonazis bei uns. Die Straßenhoheit liegt hier in anderen Händen und in diesem speziellen Falle ist das denn doch sehr begrüßenswert.
    Der individuelle kleinbürgerliche Faschismus zeigt sich eher wie folgt: Im U-Bahnhof Seestraße kreischen einige arabische Mädchen herum und ein gegelter Mittvierziger mit schwarzer Brille und sportivem Auftritt murmelt etwas von Gaskammer vor sich hin. Tatsächlich erntet er sogleich die kritischen Blicke anderer Passanten. Offen ausgesprochener Rassismus hat dann doch auf den hiesigen Straßen und Plätzen eine eher geringe Überlebenschance. Da dürfen einem die Jungen dann auch als Ausgleich gelegentlich mal auf die Nerven gehen.
    Wobei, wenn die mir jetzt so was wie »Schwule Sau!« hinterherrufen würden, da weiß ich nicht genau, wie ich dann reagieren würde. Gerade von so Typen, die von Parfümnebeln umwabert sind, die eng anliegende rosa Pullover und weiße Hosen dazu tragen. Davon gibt’s nicht wenige. Ich habe keine Ahnung, ob sie eigentlich wissen, dass sie damit tatsächlich wie schwule Abziehbilder wirken. Das allerdings würde ich ihnen wohl eher nicht offen ins Gesicht sagen, dazu ist mein Überlebenswille noch zu ausgeprägt und ich würde meinen mehr als zwanzig Weddinger Jahren gerne noch ein paar Jahrzehnte hinzufügen. Wobei ich durchaus mit Spannung beobachte, wie sich hier so etwas wie eine Szene zu etablieren versucht, die Schererstraße zum Beispiel. Man kann ja mittlerweile von Berlins kürzester Subkulturmeile sprechen. Da gibt’s Galerien mit Konzertprogramm, Kneipen à la Prenzlauer Berg und Bars à la Friedrichshain, Gott sei Dank aber mal gerade auf fünfzig Metern. Und die reichlichen Besucher, die hier nächtens anzutreffen sind, übernachten denn doch im heimischen Kiez jenseits der Bezirksgrenze.
    In all den Jahren hat sich bei mir tatsächlich ein leicht kauziger Lokalpatriotismus breitgemacht, den ich aber nicht missen möchte. Und um noch einmal auf die
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