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Die letzte Lüge: Thriller (German Edition)

Die letzte Lüge: Thriller (German Edition)

Titel: Die letzte Lüge: Thriller (German Edition)
Autoren: Peter de Jonge
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    Am Vorabend von Thanksgiving tritt die 19-jährige Francesca Pena um 21.37 Uhr aus dem schmalen Eingangsbereich eines schäbigen kleinen Wohnhauses in den East Fifties und eilt in nördlicher Richtung davon. Dünn wie ein Model und nur durch eine Adidas-Trainingsjacke im Retrolook vor der Kälte geschützt, stemmt sie sich gegen den eisigen Wind, der die Autos in die Innenstadt zu jagen scheint, und blinzelt aus zusammengekniffenen Augen in die tristen Geschäftsauslagen. Dieser Abschnitt der 2nd Avenue hat noch nie viel hergemacht und heute Abend, da alle unterwegs zu ihren Familien sind oder sich auf deren Ankunft vorbereiten, sind die meisten Geschäfte verrammelt – alle, außer der Filiale einer Süßwarenkette, die gerade erst den Besitzer gewechselt hat, und einem Irish Pub, das mit einer Happy Hour von 10 Uhr bis 19 Uhr wirbt.
    An der 52nd Street biegt Pena in westlicher Richtung ab, geht an mehreren sechsstöckigen Wohnhäusern, einer im Souterrain gelegenen chemischen Reinigung, einigen trostlosen Kneipen und dem Hauptsitz der Heilsarmee vorbei. Der lückenhafte Schriftzug H ILSARM lässt sie wie immer leicht zusammenzucken, da ihm sämtliche »E« fehlen. Als Studentin mit Leichtathletik-Stipendium im zweiten Semester an der NYU ist sie bereits durch allerhand Stadtviertel gelaufen, gute wie schlechte, allerdings hat sie bisher keines als so beunruhigend empfunden wie diese heruntergekommene Gegend am Rand der Innenstadt. Jegliche Art von Geschäftstüchtigkeit wirkt hier angesichts der Immobilienpreise vergeblich. Um sowohl ihrer Beklemmung wie auch der Kälte entgegenzuwirken, schiebt sich Pena ein Malzbonbon mit Schokoladenüberzug in den Mund und beschleunigt ihr ohnehin zügiges Tempo. Ab der 3rd Avenue gibt es keine gewöhnlichen Wohnhäuser oder Einzelhandelsgeschäfte mehr, nur noch Banken und Bürohochhäuser, und als Pena den menschenleeren Straßenzug entlangeilt, sind ihre blutrote Jacke und ihre kurzen glänzenden schwarzen Haare das einzig Auffällige, das nicht im allgemeinen Grau untergeht. Dank der Hotels ist wenigstens die Lexington Avenue gut beleuchtet und hinten an der Ecke erstrahlt der Eingang zur U-Bahn. Als die Ampel umschaltet, springt Pena über die Straße und die schmutzigen Stufen hinunter, zieht ihre Metrokarte routiniert über den Kartenleser und schiebt sich durch das Drehkreuz wie über eine Ziellinie. Sie findet kaum die Zeit, ihre verbrauchte Karte wegzuwerfen, als auch schon ein Zug der Linie 6 einfährt. Wenig später steigt sie die Treppe zur Bleecker Street hinauf und ist wahnsinnig froh, im Stadtzentrum angekommen zu sein. Die Luft scheint hier fünf Grad wärmer und zum ersten Mal seit Stunden, so kommt es ihr vor, nimmt sie bewusst den Himmel wahr. Da sie noch fünfzehn Minuten Zeit hat, macht sie einen kurzen Abstecher zu Tower Records, wo sie für Moreal die neueste CD von No Doubt und für Consuela die aktuelle von Britney besorgt. Anschließend, nachdem sie sich die verdrehten Augen des gepiercten Kassierers gefallen lassen musste, geht sie in südlicher Richtung weiter.
    Die barbusige Kate Moss, die sich mit 31 Jahren immer noch die nackten Titten abfriert, thront über der Kreuzung zwischen Houston und Lafayette Street. Die kaum weniger verführerische Pena geht unter ihrem Bild entlang, was jedem einzelnen an der Tankstelle wartenden Taxifahrer ein breites Lächeln aufs Gesicht zaubert. Dann biegt sie östlich in die Prince und geht an einer mit Werbeplakaten für isotonische Getränke, Bands und Videospiele tapezierten Wand entlang. Sie hält sich dicht an der hohen Steinmauer, die zwischen Mulberry und Mott Street den Friedhof begrenzt. Nolita wirkt im Vergleich zu Midtown durch die festtagsbedingte Stadtflucht kaum beeinträchtigt. Autos und Fußgänger schlängeln sich durch die verstopften Straßen, Raucher drängen sich vor den Bars, und wie immer stehen die Leute vor dem Café Habana Schlange. Östlich der Elizabeth Street ist die Straße jedoch finster und auf der Bowery sind die Läden der Restaurantzulieferer verbarrikadiert wie vor einem Gewittersturm. Frierend und ungeduldig darauf bedacht, endlich anzukommen, biegt Pena östlich in die Rivington Street. Einen weiteren halben Straßenzug später, am Ende einer kurzen schmalen Straße, entdeckt sie ihr Ziel: eine erst vor vier Monaten eröffnete Bar namens Freemans.

2
     
    Im Freemans, das mit falschen alten Deckenbalken auf schäbige Jagdhütte getrimmt wurde, herrscht Hochbetrieb.
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