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Gesang der Rosen

Gesang der Rosen

Titel: Gesang der Rosen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Rücken wanderte er in der Gruft hin und her, von der Ecke, in der es tropfte, bis zum Ansatz der Steinstufen und zurück. Sein Schatten geisterte an den Wänden entlang, wuchs und verschwand, dehnte sich und schrumpfte zusammen und war dunkel, kühl, unwirklich und wesenlos, wie das Innere des Jungen, das sich von der Wirklichkeit der Welt zu trennen begann.
    »Ich weiß«, sprach André während seiner Wanderung, und der Ton seiner Stimme, die, wenn er mit Jeanette zusammengewesen war, immer wie eine dunkle Melodie geklungen hatte, war eingefroren, leblos, monoton, »ich weiß, was du sagen würdest, wenn du sprechen könntest, lieber Ritter. Du wirfst mir vor, ich hätte diese Welt verkannt. Nicht mit dem Ideal soll man den Menschen suchen, sondern mit dem nüchternen Verstand. Oh, lohnt es sich denn dann noch zu leben? Hat diese Welt nicht Raum für Träumer, die das Edle suchen? Anscheinend nicht. Frag einen Menschen auf der Straße, einen fremden, der dir gerade begegnet, warum er lebt. Er starrt dich an, schüttelt den Kopf, geht weiter, nennt dich irre und liebt, ißt, schläft, betrügt, handelt, vergnügt sich, ärgert sich und stirbt, ohne je gedacht zu haben: Warum? Er ist zufrieden, daß er lebt, mehr will er nicht. Mein Gott, ist das im Grunde nicht tierisch? Gleicht diese Stumpfheit nicht einem verheerenden Aussatz, der die letzte Würde frißt?«
    Mit lauter Stimme hatte André Tornerre die letzten Worte gerufen, und ihr Ton schwang noch in dem Gewölbe, als er die Lampe hochriß, das engbeschriebene Blatt Papier vom Rand des Taufbeckens nahm und damit vor das bröckelnde Mosaik trat.
    »Du weißt, warum ich hier bin«, sprach er zu dem Bildnis, »und dir allein gebührt der Vorzug, das letzte Werk des still Verlöschenden zu hören. Du hast den Beginn meiner schöpferischen Zeit erlebt, sieh, nun sollst du auch das Ende mitbekommen. Wenn ich gehe, soll man sagen, daß mein Abschied auch Methode hatte. Es ist ein Abschied, bester Freund, von allem, ein Abschied, der nicht schwerfällt, weil ich weiß, daß mich mein Tod befreit. Hier fand ich unter einem Stein, in einer kleinen Nische, das Kästchen mit den alten, unbeschriebenen Pergamenten, auf die ich dann – wie oft warst du mein Zeuge? – die Lieder schrieb, die ich in deinem Geiste verfaßte. Wohlan nun – laßt uns einmal noch solche Verse hören – nicht von Marcabrun oder Bertrán de Born, sondern von Tornerre, einfach und schlicht von André Tornerre, dem Einsamen, Verachteten, Begrabenen.«
    Er trat zurück an das Taufbecken, setzte sich auf den Klappstuhl, legte die Arme auf den Rand des Beckens, stellte die Lampe sich gegenüber und begann mit einer merkwürdigen, eintönigen, leidenschaftslosen Stimme zu lesen:
    »DAS LETZTE GEDICHT
    Die Nacht ist kühl,
ich friere, und ich warte.
Worauf? Oh, fragt nicht mein Gefühl,
daß ich voll Hohn euch in die Fratzen lache …
Oh, schweigt, schweigt – diese Nacht ist kühl.
    Was ist Verzweiflung, die uns bindet
an unserer Menschheit kargen, trüben Rest,
die Haß und Liebe wechselvoll empfindet
und Sehnsucht sucht und untergeht in Pest?
Was ist der Mensch im Taumel seiner Qualen,
wo regt sich noch das göttliche Gefühl?
Soll er die Sünde mit der Sünde zahlen?
Oh, schweigt, schweigt – diese Nacht ist kühl!
    Gingst du von mir, weil mir das Leben
den Glauben an die Macht der Wahrheit nahm?
Oh, wie gewaltsam trifft die bitt're Scham,
dir mehr an Schmerz als wie an Glück zu geben.
    Und doch ist Glück nicht diese harte Welt,
denn Menschsein sprengt die Grenzen des Bedachtes.
Und was du heute ansiehst als Verlachtes,
ist morgen eine Säule, die uns hält.
    Man wirft den Stein gar leicht auf einen Blinden,
der taumelnd, tastend seine Straße zieht,
Man wird gar leicht der Spötter Mäuler finden,
vor denen die Gerechtigkeit mit Schauder flieht.
Gesteinigt aber sinkt am Rand der Trauer
der Blinde in die Nacht der Tränenschauer.
    Du bist gegangen, und die Welt ist leer,
aus Liebe wurde Haß, aus Glück Verachtung.
Und bei der Zukunft schaudernder Betrachtung
seh ich den Weg ins Menschliche nicht mehr.
    Wie kann ein Mensch so am Gefühle kranken?
Wo ist die Kraft zum hohen Sonnenflug?
Wo ist der Geist, der uns zum Throne trug,
aus dessen Kelch wir Traum und Wahrheit tranken?
    Oh, ist des Lebens Kürze denn so schwer,
daß Geist und Seele sie nicht einig tragen?
Gibt es den Glauben an das Ich nicht mehr,
mit dem wir alles Irdische erwägen?
Leer ist das Reich, in dem ich glücklich war,
und
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