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Geburtstag in Florenz

Geburtstag in Florenz

Titel: Geburtstag in Florenz
Autoren: Magdalen Nabb
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Maresciallo Guarnaccia ist für Untersuchung des Mordes an einer bekanntern Schriftstellerin zuständig. Als er Freundeskreis und Ehemann der Toten befragen muß, befürchtet Guarnaccia schon, dass dieser Fall seine Möglichkeiten übersteigt. Doch da kommt Hilfe in Gestalt einer lang verdrängten Erinnerung aus seiner Schulzeit in Sizilien, die ihn auf die Lösung des geheimnisvollen Falls bringt.
    1
    »Vielleicht hab ich sie gestoßen, kann schon sein.«
    »Kann sein, sagen Sie?« Der Staatsanwalt wiederholte die letzten Worte des Angeklagten betont laut und hielt dann inne. Ein nervöses Hüsteln ging durch den Gerichtssaal, wie zwischen zwei Sätzen eines klassischen Konzerts. Das Schweigen wurde beklemmend. Auf der Stirn des Angeklagten glänzten Schweißperlen. Der Staatsanwalt schlug die schwarzseidenen Schöße seiner Robe zurück und holte zum Angriff aus.
    »Haben Sie die Frau gestoßen – ja oder nein?«
    »Ja! Ich hab sie geschubst – glaub ich …«
    »Und glauben Sie auch, daß dieser Schubs kräftig genug war, um sie zu Boden zu werfen?«
    Er war ein so mickriges Kerlchen, daß es einem schwerfiel, sich vorzustellen, wie er jemanden niederschlug. Die blonden Haare hingen ihm schlaff und fettig um den Kopf, und der schlottrige Anzug sah aus, als wäre er ein paar Nummern zu groß, aber wahrscheinlich hatte er im Gefängnis abgenommen. Der Mann war in den Dreißigern, doch die schmalen Schultern und die umschatteten Augen mit dem leeren Blick gaben ihm das Aussehen eines halbverhungerten, mißhandelten Kindes. Er preßte Knie und Hände zusammen, als müsse er sich anstrengen, um auf dem einzeln stehenden Plastikstuhl das Gleichgewicht zu halten. Freilich zitterte er auch, und vielleicht war es das, wogegen er ankämpfte. Indes waren es weder Gewissensbisse noch die Erinnerung an jene Nacht, was ihn zittern machte. Er hatte nur Angst vor dem, was hier und jetzt mit ihm geschah.
    »Hingefallen ist sie, das stimmt …« Sein Blick schweifte nach links zu den Käfigen, wo ein Häftling von wesentlich kräftigerer Statur sich leise hin und her wiegte und still in seine Hände weinte.
    »Bitte beantworten Sie die Frage!«
    »Sie …« Er riß den Blick vom Käfig los, aber es war offensichtlich, daß er sich nicht mehr erinnern konnte, wie die Frage lautete. »Hingefallen ist sie, ja … Aber sie war betrunken.«
    »Sie war betrunken.« Die Angewohnheit des Staatsanwalts, jede seiner Aussagen zu wiederholen, hätte selbst den unschuldigsten Zeugen aus dem Konzept gebracht, doch diesem Mann konnten solch subtile Taktiken nichts mehr anhaben. Wieder schweifte sein Blick zum Käfig. Seine Aufmerksamkeit galt nur zur Hälfte den Fragen des Staatsanwalts.
    »Also: Die Frau war betrunken, Sie haben sie gestoßen, und sie ist gestürzt. Ist das alles?«
    Unverständliches Gemurmel.
    »Bitte sprechen Sie lauter, damit das Gericht Ihre Antworten auch versteht!«
    »Sie könnte irgendwo gegengeprallt sein.«
    »Ach, und wogegen? Gegen eine Wand? Den Fußboden? Ein Möbelstück? Na, gegen was könnte sie geprallt sein?«
    »Da stand eine Kommode in der Diele, gleich da, wo sie hingefallen ist.«
    Das Schluchzen des Mannes im Käfig war nun im ganzen Gerichtssaal zu hören, was freilich dem Staatsanwalt, der jetzt auf den Höhepunkt zusteuerte, als Geräuschkulisse durchaus nicht unwillkommen war.
    »Hohes Gericht, meine Damen und Herren Geschworenen, fest steht, daß Anna Maria Grazzini, fünfunddreißig Jahre alt und bei guter Gesundheit, nach einem ›kleinen Schubs‹ mit nachfolgendem Sturz neben einer Kommode … bei ihrer Einlieferung in die Klinik Santa Maria Nuova ihren Verletzungen, darunter eine Kinn- und Schädelfraktur, fünf gebrochene Rippen und eine perforierte Bauchspeicheldrüse, bereits erlegen war! Sie muß wirklich sehr ungünstig gefallen sein, meinen Sie nicht auch, Signor Pecchioli?«
    Er hatte richtig kalkuliert. Das Hintergrundschluchzen, das mit seiner Stimme lauter geworden war, illustrierte eindrucksvoll das Grauen jenes Weihnachtsabends.
    »Herr Vorsitzender, mit Ihrer Erlaubnis möchte ich den Geschworenen jetzt die Fotos der Anna Maria Grazzini vorlegen lassen.«
    Einer nach dem anderen nahmen sie die Bilder zur Hand, und man spürte förmlich, wie ihre Augen glasig wurden, in der Hoffnung, pflichtbewußt dreinzuschauen, ohne wirklich hinzusehen. Danach richteten sich aller Blicke durchdringender auf die mickrige Gestalt auf dem Plastikstuhl.
    Keine Frage, der Staatsanwalt verstand sein
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