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Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)

Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)

Titel: Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)
Autoren: Gernot Gricksch
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Prolog
    13.7.2000
    H eute ist mein Geburtstag. Mein Vierzigster. Aber mir ist weiß Gott nicht nach Feiern zu Mute.
    Ich stehe hier an einem offenen Grab und wünschte, es würde regnen. Doch die Julisonne brennt, durch kein Wölkchen gemildert, auf uns herab. Der Pastor redet irgendetwas, Phrasen, nichts als Phrasen. Aber was soll er auch sagen – den Menschen, der in diesem Sarg liegt, hat er schließlich gar nicht gekannt. Genauso wenig wie wir. Obwohl wir wirklich dachten, wir täten es.
    In wenigen Minuten wird die schlichte Holzkiste in dieses Loch versenkt werden. Und all meine Fragen werde ich auf ewig für mich behalten müssen. Der Trost, den ich hätte spenden können, wird in mir eingesperrt bleiben. Und ich werde damit leben müssen, dass vieles, woran ich geglaubt habe, eine Illusion war. In diesem Sarg liegt ein Mensch, den ich für meinen Freund hielt. Doch ich war nicht Freund genug, um das Wesen seines Geheimnisses zu erkennen. Ich habe nicht einmal geahnt, dass er überhaupt ein Geheimnis mit sich herumtrug. Ein Geheimnis, das ihn schließlich umgebracht hat.
    Die anderen stehen neben mir. Keiner von ihnen weint, aber ich weiß, dass sie alle den selben Schmerz empfinden. Es tut weh, einen Teil seiner Träume begraben zu müssen.
    Ich hole eine kleine, zerknitterte Tüte aus meiner Jackentasche. Als ich sie öffne, knistert es ziemlich, und ich merke, wie der Pastor, obwohl er immer weiterredet, kurz aufschaut. Ich nehme ein paar Kirschen heraus, die ich heute Morgen extra noch besorgt habe, und gebe jedem meiner Freunde um mich herum eine.
    Die anderen sind erst ein wenig überrascht, doch dann begreifen sie. Wir grinsen schief, als wir uns die Kirschen in den Mund stecken. Der Pastor wirft uns einen missbilligenden Blick zu . Jetzt fangen die schon an, bei Beerdigungen kleine Snacks zu verteilen , denkt er vermutlich.
    Als die sinnlose Rede endlich zu Ende ist, lassen zwei Männer den Sarg in das Grab hinab. Wir sehen uns an, nicken, und gehen dann alle gleichzeitig an den Rand der Grube. Den kleinen Kübel mit Sand, in dem eine Schaufel steckt, ignorieren wir. Wir werden unseren Freund nicht mit Dreck beschmeißen. Stattdessen legen wir alle gleichzeitig, als hätten wir’s wochenlang geübt, den Kopf zurück. Und dann spucken wir, in hohem Bogen, unsere Kirschkerne in das Grab. Der Pastor funkelt uns mit wütenden Augen an.
    Doch was weiß der schon!

1960
    M ein Vater verschwand, als meine Mutter in den Wehen lag. Die Hebamme erinnerte sich, dass sie meinen alten Herrn kurz zuvor noch gesehen hatte; er saß im Flur des Krankenhauses, kratzte sich nachdenklich am Kopf und atmete, so erzählte sie, auffallend schwer. Die Hebamme hatte ihm freundlich zugelächelt und war dann in den Kreißsaal zurückgekehrt, wo meine Mutter schrie wie am Spieß. Kein Wunder: Ich wollte unbedingt nachschauen, was da draußen auf mich wartete, und ging bei meinem Aufbruch in die Außenwelt nicht gerade zimperlich vor.
    Als ich geboren war, wollte die Hebamme dann meinen Vater holen. Doch der war, wie gesagt, weg. Einfach nicht mehr da. Zuerst dachte sich niemand etwas dabei. »Vielleicht ist er irgendwo draußen, eine rauchen«, mutmaßte die Schwester. Aber meine Mutter wusste, dass etwas nicht stimmte. Mein Vater war Nichtraucher. Und wenn er erst einmal irgendwo saß, dann blieb er da auch sitzen. Mein Vater war noch nie sehr unternehmungslustig.
    Nach einer Weile hob meine Mutter mich, der sich gerade gemütlich an ihre Brust gekuschelt hatte und die neue Welt recht nett zu finden begann, hoch und übergab mich kurzerhand der Schwester. »Heinz ist irgendetwas passiert!«, insistierte sie. Dann stand sie auf, so gut es eben ging nach Dammriss und Geburtsstress, und stampfte wankend aus dem Zimmer. Die Schwester legte mich eiligst in eine schnöde Keramikschale, die in Sachen Gemütlichkeit weit, weit hinter einem Busen rangierte, und rannte meiner Mutter hinterher. Die Arme hielt sie ausgestreckt, weil sie fest damit rechnete, dass die Frau mit dem blutigen Nachthemd und den wirr rollenden Augen gleich zusammenklappen würde.
    Doch da kannte sie meine Mutter schlecht!
    Eine Viertelstunde rumpelte und torkelte Mama durch die Flure und zog mit der Zeit einen immer größeren Tross an Leuten hinter sich her. Ein Arzt, eine Hebamme, zwei Schwestern und ein anderer werdender Vater, dem wohl gerade langweilig war, eilten ihr nach. Meine Mutter grölte immer wieder: »Heinz! Heinz!«, stieß Türen auf, wo sie
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