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Gesammelte Werke 6

Gesammelte Werke 6

Titel: Gesammelte Werke 6
Autoren: Arkady Strugatsky
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das war kein Tageslicht! Auf dem mit Gerümpel vollgestellten Fußboden lagen ebenfalls helle, scharf umrissene Rechtecke. Viktor lief ans Fenster und sah hinaus. Der Mond schien – ein eisiger, kleiner und blendend heller Mond. Von ihm ging ein schier unerträgliches Grauen aus, das Viktor sich zuerst nicht erklären konnte. Der Himmel war nach wie vor bewölkt, aber in die Wolken war ein exaktes Quadrat geschnitten, und in der Mitte dieses Quadrats hing der Mond.
    Quadriga hörte auf zu kreischen; es hatte ihn so geschwächt, dass er nur noch ein leises Knurren von sich gab. Viktor holte tief Luft und verspürte plötzlich Zorn. Was soll dieser ganze Zirkus? Für wen halten die mich? Quadriga knurrte immer noch.
    »Hör auf damit!«, brüllte Viktor hasserfüllt. »Hast du die Quadrate nicht gesehen? Du verschissener Maler! Speichellecker!«
    Er packte Quadriga mitsamt der Mohairdecke und schüttelte ihn aus Leibeskräften. Quadriga fiel zu Boden und muckste sich nicht mehr.
    »So«, meldete er sich dann mit überraschend klarer und deutlicher Stimme. »Jetzt reicht’s mir.«
    Er drückte sich auf allen vieren hoch und rannte wie ein Sprinter aus dem Stand los. Viktor sah wieder aus dem Fenster. Im Stillen hatte er die Hoffnung gehegt, alles sei nur Einbildung gewesen, aber es war wie vorher, nur dass er in der rechten unteren Ecke des Quadrats einen winzigen Stern erblickte, der im Mondlicht fast versank. Man sah jetzt deutlich die nassen Fliederbüsche, den abgestellten Springbrunnen mit dem allegorischen Marmorfisch, das Tor mit dem Ziergitter und dahinter den schwarzen Streifen der Chaussee. Viktor setzte sich aufs Fensterbrett und steckte sich, um Ruhe bemüht, eine Zigarette an. Bei einem flüchtigen Blick ins Zimmer bemerkte er, dass der Soldat nicht mehr da war – entweder hatte er das Weite gesucht, oder er war unter die Couch gekrochen und dort vor Schreck gestorben; die MPi lag jedenfalls noch an ihrem Platz. Viktor kicherte hysterisch, als er dieses erbärmliche Stück Eisen mit den Kräften verglich, die den quadratischen Schacht in die Wolken gebohrt hatten. Das waren Zauberer. Nein, dachte er, auch wenn die neue Welt nicht siegen, sondern untergehen sollte, so kriegt die alte doch ihr Fett weg … Es ist ganz gut, eine MPi zur Hand zu haben. So dumm es ist, man fühlt sich doch sicherer damit. Genau genommen ist es ja auch gar nicht so dumm: Es ist klar, dass es ein großes Gerenne geben wird, das liegt geradezu in der Luft. Und dann ist es immer besser, sich aus dem Gewühl herauszuhalten und eine Waffe bei sich zu tragen.
    Im Hof heulte ein Motor auf, um die Ecke schoss Quadrigas riesige, überlange Limousine (ein persönliches Geschenk des Herrn Präsidenten für treue Dienste mit dem Pinsel), raste quer durch den Garten aufs Tor zu, fuhr es mit Gepolter um, sauste auf die Chaussee hinaus und entschwand den Blicken.
    »Nun ist er doch abgehauen, der Mistkerl«, murmelte Vik tor nicht ohne Neid. Er stieg vom Fensterbrett, warf die MPi über die Schulter, zog den Regenmantel an und rief nach dem Soldaten. Der meldete sich nicht. Viktor lugte unter die Couch, aber dort lag nur das graue Bündel mit der Uniform. Er zündete sich noch eine Zigarette an und ging in den Garten. In den Fliederbüschen am niedergerissenen Tor entdeckte er eine seltsam geschwungene Bank, von der man die Chaussee gut überblicken konnte. Er ließ sich darauf nieder, schlug die Beine übereinander und hüllte sich fester in den Regenmantel. Anfangs rührte sich nichts, dann aber rollte Wagen auf Wagen vorbei, und er begriff, dass die Flucht begonnen hatte.
    Die Stadt glich einem geplatzten Geschwür. Als Erste flohen die Auserwählten: Magistrat und Polizei, Industrie und Handel, Gericht und Steuerbehörde, Finanzamt und Volksbildung, Post und Telegrafenamt, und auch die Goldhemden wollten nicht zurückbleiben. Alle sahen zu, dass sie weg kamen, in Wolken von Benzingestank, mit knatterndem Aus puff, struppig und aggressiv, wütend und stumpfsinnig, Wucherer und Raffer, Volksdiener und Stadtväter, mit Hupkonzerten und hysterisch heulenden Sirenen. Die Chaussee dröhnte, das gigantische Furunkel entleerte sich weiter, und als der Eiter abgeflossen war, trat das Blut aus, das einfache Volk: auf überladenen Lastwagen, in zerbeulten Bussen, vollgestopften Kleinwagen, auf Motorrädern, Fahrrädern, Fuhrwerken und zu Fuß, unter der Last ihrer Bündel gebeugt, mit Handwagen oder leeren Händen – mürrische, schweigsame,
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