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Gesammelte Werke 6

Gesammelte Werke 6

Titel: Gesammelte Werke 6
Autoren: Arkady Strugatsky
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bedrückte Menschen, die ihre Häuser und Wanzen, ihr bescheidenes Glück und ihr geregeltes Leben, Vergangenheit und Zukunft zurückließen. Hinter dem Volk kam die Armee. Langsam rollten ein Geländewagen voller Offiziere und ein Schützenpanzerwagen vorbei, ihnen folgten zwei Lastwagen mit Soldaten und die besten Feldküchen der Welt. Den Abschluss bildete ein Halbkettenpanzerwagen mit rückwärtsgerichteten Maschinengewehren.
    Es dämmerte, der Mond wurde blasser, das schreckliche Quadrat verschwamm, die Wolken lösten sich auf, und der Morgen brach an. Viktor wartete noch fünfzehn Minuten, und als dann niemand mehr kam, trat er vors Tor. Auf dem Asphalt lagen schmutzige Lumpen, ein zerknautschter Koffer, der bestimmt einmal einem hohen Tier gehört hatte, ein Wagenrad und ein Stück weiter, am Straßenrand, der dazu gehörige Leiterwagen mit einer alten, durchgesessenen Couch und einem Gummibaum. Mitten auf der Chaussee, dem Tor direkt gegenüber, sah er eine einsame Galosche. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Viktor blickte zur Raststätte hinüber. Auch dort entdeckte er kein einziges Fahrzeug und keinen einzigen Menschen. In den Gärten sangen die Vögel, die Sonne ging auf. Viktor hatte die Sonne seit zwei Wochen nicht gesehen, und die Stadt schon seit Jahren nicht mehr. Aber nun war keiner mehr da, der sie hätte anschauen können. Wieder hörte man einen Motor brummen, und um die Ecke bog ein Bus. Viktor trat an den Straßenrand. Es waren die »Brüder im Geiste«, die Viktor im Vorbeifahren einträchtig ihre ausdruckslosen, stumpfsinnigen Gesichter zuwandten. Das war’s, dachte Viktor. Man müsste etwas zu trinken haben. Wo nur Diana bleibt?
    Er trabte langsam in die Stadt zurück.
    Die Sonne befand sich rechts von ihm – bald versteckte sie sich hinter den Dächern der Villen, bald lugte sie durch die Zwischenräume, bald fiel ihr warmes Licht durch die Zweige der halb verfaulten Bäume. Die Wolken waren verschwunden und der Himmel wunderbar klar. Vom Boden her stieg leichter Nebel auf. Ringsum herrschte völlige Stille, und plötzlich hörte Viktor merkwürdige, kaum wahrnehmbare Geräusche, die unmittelbar aus der Erde zu kommen schienen – ein schwaches Knistern, Rascheln und Rauschen. Mit der Zeit aber gewöhnte er sich daran und beachtete es nicht mehr. Ein herrliches Gefühl von Ruhe und Sicherheit erfasste ihn. Er war wie im Rausch und schaute fast nur in den Himmel. In der Präsidentenallee hielt neben ihm ein Jeep.
    »Steigen Sie ein«, lud Golem ihn ein.
    Golem wirkte grau vor Müdigkeit und irgendwie bedrückt. Neben ihm saß Diana, ebenfalls sehr müde, aber trotzdem schön – die schönste aller müden Frauen.
    »Die Sonne«, bemerkte Viktor und lächelte Diana an. »Seht nur, was für eine Sonne.«
    »Er fährt nicht mit«, sagte Diana. »Ich habe Sie gewarnt, Golem.«
    »Warum soll ich nicht mitfahren?«, fragte Viktor erstaunt. »Klar fahre ich mit. Aber wir haben es doch nicht eilig.«
    Er konnte es sich nicht versagen, noch einmal zum Himmel zu schauen. Dann betrachtete er die leere Straße. Alles war vom Sonnenlicht überflutet. Irgendwo weit weg schlepp ten sich Flüchtlinge über das Feld, polterte die zurückweichende Armee, flüchtete die Obrigkeit – dort gab es Staus, Flüche, sinnlose Kommandos und Drohungen –, von Norden her rückten die Sieger gegen die Stadt vor. Hier aber war Niemandsland, ein mehrere Kilometer breiter Streifen, in dem man sich ruhig und sicher fühlen konnte, und mittendrin ein Wagen und drei Menschen.
    »Golem, kommt die neue Welt auf uns zu?«
    »Ja«, antwortete er und musterte Viktor unter seinen geschwollenen Lidern hervor.
    »Und wo sind Ihre Nässlinge? Gehen die zu Fuß?«
    »Es gibt keine Nässlinge«, erklärte Golem.
    »Wieso nicht?«, wollte Viktor wissen und sah Diana an. Sie wandte sich schweigend ab.
    »Es gibt keine Nässlinge«, wiederholte Golem. Seine Stimme klang gepresst, und er schien jeden Augenblick in Tränen auszubrechen. »Sie können davon ausgehen, dass es nie welche gegeben hat. Und auch nie welche geben wird.«
    »Wunderbar«, freute sich Viktor. »Gehen wir ein Stück.«
    »Fahren Sie nun mit oder nicht?«, fragte Golem mit dump fer Stimme.
    »Ich würde ja fahren«, erwiderte Viktor lächelnd, »aber ich muss erst noch ins Hotel, meine Manuskripte holen und mich ein bisschen umsehen … Wissen Sie was, Golem, mir gefällt es hier.«
    »Ich bleibe auch«, sagte Diana plötzlich und stieg aus. »Was soll ich
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