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Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)

Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)

Titel: Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
Autoren: Nils Minkmar
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1 Das Gedicht
    Im Eingangsbereich des Willy-Brandt-Hauses gibt es einen kleinen Souvenirshop mit allerlei SPD -Merchandising. Darunter ein Toaster aus rotem Plastik, der innen eine Vorrichtung hat, mit der die drei Buchstaben des Parteinamens auf der Brotscheibe vom Röstvorgang ausgespart bleiben und so weiß auf goldbraun zu lesen sind. Amerikanische Touristen wird es hier zum Glück nicht hinverschlagen und wenn doch, müssten sie lachen: »He’s toast« ist ein Spruch für einen, der ganz und gar erledigt ist.
    Tritt man in das Foyer des Gebäudes, erfasst einen ein Gefühl der Beklemmung. Dies dürfte das schlimmste Feng-Shui der Welt sein: Der ganze Bau ist ein vergrößerter Keil, aber weil man nach vorne nichts sehen kann, entsteht ein Schwindelgefühl. Dynamisch soll es hier zugehen, aber die Richtung ist nicht erkennbar. So entsteht ein omnisensorisches Vertigo, das nun auch gut zur politischen Gesamtlage passt. Und dann, wie um das ganze Haus zu erden, steht da der Willy.
    Der Bildhauer Rainer Fetting hat einen überlebensgroßen Brandt aus Bronze gefertigt. Das ist ihm zu gut gelungen. Die Plastik verströmt eine unheimliche Dynamik, fast meint man, Willy habe eben eine Geste gemacht, als man nicht geguckt hat. Man steht vor einem Willy Brandt, der noch größer ist als der große Willy Brandt und im Gegensatz zu ihm auch noch unverwundbar, so solide und ganz und gar massiv ist er. Ein Super-Willy, der keine Depressionen und keine Müdigkeit kennt. Das hat Folgen. Man muss kein Ethnologe sein, um zu erkennen, dass es die lebendigen Menschen vor solch einem Totem schwer haben. Ist es Zufall, dass die Jahre, in denen der Willy unten im Foyer steht und alle Blicke und alle Kraft auf sich zieht, auch die der schwachen Vorsitzenden waren? Wie wäre es wohl, wenn Merkel bei ihren Auftritten immer einen gewinnend lächelnden und tanzenden Avatar von Obama neben sich stehen hätte? So etwas kann nicht gut ausgehen. Der gute Geist ist in der Bronze gefangen, er hat den großen Keil jedenfalls verlassen.
    Das Willy-Brandt-Haus hat noch keinem Glück gebracht. Als der Vorstand der SPD 1999 feierlich einzog, war Oskar Lafontaine der mächtige und an der Basis beliebte Vorsitzende, stellte die Partei den Bundeskanzler und schickte sich an, nachdem dies den Altersgenossen Clinton und Blair schon gelungen war, mit der Kraft der Babyboomer die Republik aufzufrischen und ins neue Millennium zu führen. Der ökologische Umbau der Industriegesellschaft stand auf dem Programm. Die sauberen und pfiffigen neuen Branchen, also Internet, Finanzdienstleistungen und Medien, versprachen Geldgewinne in einer nie gekannten Größenordnung und Arbeit ohne körperliche Pein. Die internationale Ordnung stand ganz auf Entspannung, die Demokratie war auf dem Vormarsch, Mandela war frei, Arafat und Rabin hatten sich die Hand gegeben. Die Horizonte waren offen wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit.
    Seit die Nachfolger Bebels und Brandts in diesem Haus residieren, ging alles wieder verloren: erst dieser Vorsitzende, dann die Macht im Bund, schließlich auch der Schwung und die Hoffnung, die von einer ganzen Generation ausgehen können. Mehr noch: Die Partei spaltete sich und lebt nun im feuchten Keller weit unterhalb des Tageslichts der 30  Prozent Wahlabsichten in den Sonntagsumfragen.
     
    Es ist, hat man mit der SPD zu tun, wie verflixt. Die Genossinnen und Genossen sind reizend, engagiert, intelligent, nie ist einer Einzelnen, einem Einzelnen ein Vorwurf zu machen. Dennoch ist es komisch und ganz anders als in allen anderen mir bekannten deutschen Institutionen oder Firmen, in denen es ja auch immer wieder Pannen gibt (große Tageszeitungen eingeschlossen). Aber nicht solche seltsamen, fast systemischen Fehlleistungen, die aus verworrenen Strukturen und unklarer Kommunikation resultieren. Als würde sich ein übermütiger Politgeist, ein Trickster, einen Jux machen.
    Es kann vorkommen, dass eine Assistentin am frühen Morgen auf dem Mobiltelefon anruft, weil sie nun dringend mal die Mailadresse braucht – eine Adresse, die ihre Kollegen und Kolleginnen seit langem fleißig anschreiben, aber egal. In der Mail, die dann kommt, wird höflich und leicht geheimnistuerisch nach meiner Mobiltelefonnummer gefragt, also genau nach jener, die am Morgen mehrfach angewählt wurde.
    Es kommt vor, dass Termine verschoben, dann dramatisch abgesagt werden und der, den man treffen wollte, verdutzt anruft, wo man denn bleibe. Die Absage war
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