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Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)

Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)

Titel: Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
Autoren: Nils Minkmar
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besprochen, aber es gibt noch keine Entscheidung. Die fällt erst einige Wochen später, auch nach internen Konsultationen im Willy-Brandt-Haus. Am Ende gibt es keinen Vertrag, wird kein Prozedere zur Autorisierung von Zitaten oder beobachteten Szenen verabredet und auch kein Recht, das Manuskript vor allen anderen zu lesen, bloß eine Abmachung: Ich solle das Buch so schreiben, wie ich es mit meinem Gewissen vereinbaren könne.
    Während der Diskussion greift sich Steinbrück den Band der Grass-Werkausgabe, blättert kenntnisreich zum Anfang des Buches und findet, was er sucht, auf Seite  32 . Er nennt es »eines der schönsten deutschen Gedichte«. Es ist das Ermutigungsgedicht des Autors an den Sohn Franz: »Später mal, Franz, wenn du enttäuscht bist …« Im »Tagebuch einer Schnecke« dokumentiert Grass einen Wahlkampfeinsatz für Willy Brandt im Jahre 1972 . Er hält Reden, Pressekonferenzen, versammelt Künstler, kocht und fährt im VW -Bus durch das Land. Doch es findet sich auch ein persönlicher Strang, das Ende der Ehe. Und es gibt eine Episode, die den damaligen Lesern unverständlich geblieben sein muss, weil sie mit der SS -Mitgliedschaft des Autors zu tun hat. In dem Gedicht jedenfalls kreuzen sich die Kraftlinien von Grass’ wundervollem Buch: Das sozialdemokratische Standardmotiv des in und an der Welt leidenden Sisyphos, die Arbeit an der Optimierung der Welt und das Scheitern darin und die komplizierte private Situation des wahlkämpfenden, also reisenden Vaters. Steinbrück kann es auswendig. Doch er weist nicht bloß darauf hin, begnügt sich nicht damit, eine, die letzte Zeile aufzusagen, er nimmt sich das Buch und rezitiert das Gedicht vollständig. Das ist ein Erlebnis.
    Politiker arbeiten mit ihrer Stimme. Wenn gewöhnliche Leser, Amateure wie Sie und ich, ein Gedicht vortragen oder etwas vorlesen, verliert sich der Klang leicht, und wenn man sich anstrengt, wirkt das schnell albern oder affektiert. Theaterschauspieler und Politiker modulieren die Worte so, dass sie mit einer besonderen Kraft auf die Welt treffen. Es ist gar nicht so einfach, dagegen zu bestehen, wenn man darin nicht geübt ist. Während einer Diskussion zum Fall Wulff saß ich einmal Björn Engholm gegenüber, und obwohl er nicht die besten Argumente hatte und nicht wirklich offensiv gegen mich auftreten wollte, ist mir der kleine Moment in Erinnerung, als er zu einem kurzen Monolog gegen mich ausholte und die Worte nur so auf mich einprasselten. Es war, als würde ein pensionierter Boxer austeilen. Man ist bloß froh, ihm nicht auf der Höhe seiner Kraft gegenüberzustehen.
    Steinbrücks Stimme trug die Worte von Grass weit aus dem Zimmer: »wenn es dir schiefzugehen beginnt und du die Mitgift Glauben verzehrt, die Liebe im Handschuhfach liegengelassen hast …« Der Autor erspart dem Sohn keine Schilderung drohender Nöte und Qualen: »wenn du fertig bist, wenn man dich fix und fertig gemacht hat: flachgeklopft entsaftet zerfasert«, und dann erst biegt er in die Zielgerade ein: »wenn du (…) für immer aufgegeben hast, dann – Fränzeken – nach einer Pause, die lang genug ist, um peinlich genannt zu werden, dann stehe auf und beginne dich zu bewegen, dich vorwärts zu bewegen.«
    Steinbrück wiederholte noch einmal anerkennend diese Wendung: »die lang genug ist, um peinlich genannt zu werden«. Dann schwieg er einen Moment.
    Und es konnte keiner der am Tisch versammelten Genossen ahnen, dass sich die von Grass beschriebene Lage so bald schon einstellen würde. Dass beim Kandidaten angefangen jeder hier genau so etwas durchmachen würde, bloß noch schlimmer. Und dass sie, die am Beginn dieses Wahlkampfs noch so zuversichtlich beisammensaßen, viel früher, als selbst die Pessimisten vermutet hätten, bald schon von ihrer allerletzten Ressource zehren müssten: die noch so langsame, noch so zögerliche Bewegung in eine Richtung, von der man hoffte, sie könnte vorwärts sein. Davor aber hatte der Dichter die Peinlichkeit gesetzt.

2 Winterzirkus
    Einige Monate zuvor hatte eine ganz andere Szene, die mit dem deutschen Wahlkampf nichts zu tun hatte, meine Neugier am Geschehen in den Kulissen des politischen Zirkus geweckt und das Merkwürdigste war, dass sie sich wirklich in einem Zirkus abspielte.
    Im Cirque d’Hiver im elften Arrondissement von Paris sind die Tribünen steil, die Sitze schmal und die Gänge eng, ein Gebäude, das für die Unterhaltung der Vielen konzipiert wurde. Der Bau stammt aus dem Jahr
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