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Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)

Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)

Titel: Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
Autoren: Nils Minkmar
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Blick in die Augen, der um die Schulter gelegte Arm beim gemeinsamen Bild.
    Es sind politische magische Gesten, die einen körperlichen Bund stiften sollen, der nichts Erotisches hat, er ist von einer anderen dominierenden Leidenschaft inspiriert, dem Kampf um die Macht. Jede dieser Gesten ist auch ein Abtasten nach versteckten Waffen.
    * * *
    Politiker sind Stars. Sie werden erkannt, umringt, bevorzugt behandelt und auch lange nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt nicht vergessen. Sie nähren die Medien: Angela Merkel steht jeden Tag in jeder Zeitung – kein Sport- oder Popstar schafft das. So wird ihre Regentschaft, ihre Präsenz auf der Bühne, zu einem Zeichen der Zeit unseres Lebens. Wir charakterisieren die Epochen unseres Landes und unseres Lebens anhand der Regierungschefs, das war schon in der Antike so und hat sich nicht wesentlich geändert. Sie sind Ordnungshilfen und Gedächtnisstützen. Wir sprechen in Westdeutschland schon umgangssprachlich vom Muff der Adenauerzeit, dem Aufbruch der Willy-wählen-Jahre, von der bleiernen Zeit unter Schmidt in seinem Kampf gegen den Terror und vom Wunder der Einheit in den Kohljahren.
    Aber mehr und mehr stellt sich die Frage, ob das heute noch zulässig ist, wo so viele andere, von der nationalen Politik nicht beeinflussbare Faktoren unser Leben gestalten. Fahren nicht Länder, in denen Politiker keine solchen Stars oder gar wie in Frankreich Götter werden, nicht besser oder mindestens ebenso gut? Man denke an die skandinavischen Länder oder an Finnland: Nach allen Indikatoren ist es ein lebenswertes, wohlorganisiertes Land, aber ich würde keinen finnischen Politiker nennen oder erkennen können. Und in Belgien gab es gar keine funktionierende Regierung, über Monate und Jahre, aber Belgien gibt es weiterhin. Wird Politik also überschätzt?
    Zugleich ist, trotz allen Medienwahnsinns, trotz der Berichte und Porträts und Biographien und Langzeitbeobachtungen, unser Wissen um das Leben, die Kultur an der politischen Spitze mehr von Mythen und Ahnungen durchzogen denn aus Anschauung informiert. Berichterstattung ist punktuell und momentbezogen, oder besser: auf andere Berichterstattung bezogen und bloß ein Schnappschuss, jede Information vielfach gefiltert. So schwankt die Meinung von der hohen Politik zwischen der Zuschreibung einer Allmacht, wo man sich um den Frieden in der Welt ebenso kümmern kann und muss wie um verkehrsberuhigende Maßnahmen vor dem Kindergarten – und der Feststellung kompletter Ohnmacht.
    Dann wieder sind alle einverstanden, wenn es heißt, die da oben seien Nieten in Nadelstreifen, korrupt und unfähig. Und es stimmen auch wieder alle zu, wenn ein Analyst feststellt, die wahre Macht sei der Politik entglitten, abgewandert zu den globalen Konzernen, den digitalen Playern oder einfach in andere, aufstrebende Weltregionen.
    * * *
    Dies ist die Geschichte eines Versuchs – des Versuchs, Geschichte zu schreiben. Es ging darum, die mächtigste Frau Europas mit gewaltfreien Mitteln zu stürzen, eine Übung, die zum Kern unserer Verfassung gehört, aber selten praktiziert wird und, aus der langfristigen historischen Perspektive betrachtet, erst seit ganz kurzer Zeit überhaupt möglich ist. Der gewaltfreie Regimewechsel am Sonntag ist eine bemerkenswerte zivilisatorische Errungenschaft und ein faszinierender Prozess von historischer Bedeutung – der gleichwohl schon vor vier Jahren die meisten Zeitgenossen kaltließ. Und auch diese Indifferenz ist interessant.
    In diesem Jahr ging es darum, eine Politik zu beenden, für die der Soziologe Ulrich Beck den durchaus bewundernd gemeinten Begriff des »Merkiavellismus« gefunden hatte. Eine Politik, die ihre Ziele nicht benennt und auch nicht die Fahrzeuge, mit denen sie uns dorthin mitnehmen möchte. Eine Politik, die auf das Ausstrahlen von Ruhe setzt und nicht auf Diskurs, auf permanentes Weiter-so statt auf die Aufklärung des mündigen Bürgers. Ein Kern dieser Politik ist das geschickte Vermeiden von Skandalen durch die Regierungschefin: Es gibt bei Angela Merkel nicht den Anflug eines Verdachts von Machtmissbrauch, Korruption oder übermäßiger Kumpanei mit Männerfreunden, die es mit Menschenrechten nicht so genau nehmen.
    Es ist auch eine erfolgreiche Politik, denn trotz aller Sonntagsreden folgt unser System marxistischen Prinzipien: Die wirtschaftliche Lage muss stimmen, dann sind die Leute zufrieden. Und so ist es unter Merkels Kanzlerschaft: Die Wirtschaftsdaten sind gut, die
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