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Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)

Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)

Titel: Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
Autoren: Nils Minkmar
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1852 , jener Phase der europäischen Geschichte, in der, zunächst noch ganz langsam, alles zeitgleich entsteht: Die Industrialisierung, die Kultur zur Unterhaltung der Massen, der Parlamentarismus, das Showbusiness und die Parteien.
    An jenem Tag im März 2012 bevölkern Artisten anderer Art die Gassen hinter der Bühne, es ist das Treffen der europäischen Sozialisten und Sozialdemokraten. Die Luft in Paris ist politisiert und elektrisiert, denn in wenigen Wochen könnte zum ersten Mal seit 1981 ein Sozialist einen bürgerlichen Präsidenten ablösen. Der Amtsinhaber Nicolas Sarkozy ist unbeliebt, die Meinungsumfragen sprechen seit langem und ganz eindeutig gegen ihn. François Hollande hat einen fehlerfreien Wahlkampf absolviert, und die Sozialisten scheinen geeint. Das gelang dem streitsüchtigen und konfusen Verein aber nicht kraft innerer Besinnung und politischer Einsicht, es war das Ergebnis eines Schocks, des spektakulären Crashs des Favoriten Dominique Strauss-Kahn nach seiner Festnahme wegen sexueller Nötigung. Hätte das Zimmermädchen aus dem Sofitel in New York keine Anzeige erstattet – eine mutige Tat, die sie teuer zu stehen kam – hätte die Parti Socialiste den IWF -Chef zum Kandidaten gemacht und ihn weiter – ohne Rücksicht auf das bei vielen vorhandene Wissen über seine frauenverachtenden Neigungen und Gepflogenheiten – in das Amt des Staatspräsidenten befördert. Doch nun ist der Champion in vollem Fluge explodiert, nicht einmal die ihn beratende Werbefirma Euro- RCSG konnte da noch etwas drehen, obwohl sie es versucht und ihm ein Comeback mit öffentlicher Entschuldigung aufgeschrieben haben, das aber alles nur verschlimmerte. So wurde Hollande Kandidat, der zwar bereit war, aber es war eben auch nur er bereit, sein Umfeld, angefangen bei seiner twitternden Lebensgefährtin, war es nicht.
    An jenem Märztag 2012 spielte das alles aber noch keine Rolle, da flirrte die Luft vor Revolutionsstimmung und Sägemehl. Ich war auf Dienstreise in Paris, am Vorabend hatten Kollegen von der Libération und ich für die FAZ ein Doppelinterview mit Sigmar Gabriel und François Hollande geführt. Letzterer hatte sich ganz ruhig gezeigt, als sei ihm der Sieg kaum zu nehmen. Das musste alle jene nervös machen, deren Platz in einem zukünftigen sozialistischen Kabinett noch nicht ganz sicher war, wie Pierre Moscovici. Er war, nach der Sofitel-Sache, ein politisches Waisenkind, und sein Platz war an jenem Morgen unklar, in der Partei, im Wahlkampf und im Ablauf des Politfestes an diesem Märztag im Cirque d’Hiver. Reden oder nicht, vor oder nach wem?
    Ich stolperte, einen falschen Vorhang durchschreitend, versehentlich in eine intime Szene: Mosco stand ganz nah vor einem anderen Mann, den ich vom Vorabend kannte. Während des Interviews hatte er direkt neben Hollande und Ayrault, dem designierten Premierminister, gesessen, dem er oft Papiere hinschob und etwas zuflüsterte. Er hatte sich mir nur mit Vornamen vorgestellt, und den hatte ich schon wieder vergessen.
    Moscovici steht da, ganz bleich und aufgewühlt, schnaubt und schwitzt. Der jüngere Mann berührt ihn, mit blitzschnellen, kurzen Berührungen. Er streicht ihm über die Wange, dann über den Oberarm, ein kurzer Griff in den Nacken. Er murmelt etwas, Kosenamen, noch irgendwas. Es sind keine Trostgesten, sondern magische Berührungen, die Spannung ableiten sollen. Mosco droht in die Luft zu gehen, der andere hält ihn auf der Erde, auf dem tatsächlich mit Stroh bedeckten Boden des Zirkus.
    Draußen spielt Musik, man hört die Stimmen von den Rängen voller Genossen aus ganz Europa, und hier, hinter einem dicken roten Vorhang, der Tanz zweier Männer, das spektakuläre Landsäugetier und der Dompteur. Klar, dass ich störe. Moscovici blickt nicht abweisend oder wütend, sondern fast flehentlich, als könne dieser Journalist, ein großes Plastikschild weist mich als solchen aus, einen Hinweis geben, wie es weitergeht, ein Stichwort flüstern für den vergessenen Text. Dann widmet der Berater mir eine Geste, eine kurze und deutliche, nicht unfreundliche Bewegung mit dem Kopf: Raus und du hast nichts gesehen. Wir sind vom Zirkus, und du verstehst das nicht.
     
    Es waren Gesten, die ich im Laufe des folgenden Jahres noch oft bemerken sollte: Das rasche Berühren der Oberarme, das deutliche Streichen über den Rücken, die blitzschnell auf die Wange gelegte Handfläche, die bärige Umklammerung mit zwei Armen, die Hand auf der Schulter beim
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