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Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)

Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)

Titel: Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
Autoren: Nils Minkmar
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zusammenhängen, dass die Kanzlerin ihre Macht nicht offen demonstriert, nicht mir ihr spielt und nicht damit angibt, sondern ganz im Gegenteil so tut, als habe sie keine. Um dies zu verstehen, gibt es keine bessere Quelle als die Memoiren des ehemaligen französischen Ministers Bruno Le Maire. Er schildert in »Jours de pouvoir«, Tage der Macht, wie der französische Präsident Sarkozy von den Treffen mit Merkel ganz bestürzt zurückkam, denn all seine guten Vorschläge konnte sie gar nicht annehmen: »Ich bin nicht so mächtig wie du, Nicolas« sagte sie ihm bedauernd, er hatte aufrichtiges Mitleid. Und während sie dies bekräftigte und wiederholte, nahm ihre Macht zu, während seine dahin schwand. Erledigt hatte Sarkozy dann ein gemeinsames Fernsehinterview mit der Kanzlerin, das eigentlich zu seiner Unterstützung arrangiert worden war. Sie trug ein tristes graues Kostüm und erschien den Franzosen als Versprechen eines tristen Lebens unter einem hyperaktiven Vater und einer strengen Mutter. Sarko verlor, während Merkels Macht davon unbeschädigt blieb. Und damit diese nicht so ins Auge sticht, wendet sie eine List an: Um von sich abzulenken, bevölkert sie die Bühne mit immer neuen Pappkameraden, denen angeblich eine besondere politische Bedeutung zukommt, oder erfindet stets neue Akteure: Mal soll der Europäische Gerichtshof die Regierungen beaufsichtigen, mal der Rettungsschirm einen politischen Arm bekommen, letztlich entscheidet stets sie. Besonders beliebt ist die Zuweisung einer dominierenden Rolle für das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Dabei kennt das Gericht keine Putschgelüste, es ist die Ausnahme, dass es eine Politik, die von den anderen Verfassungsorganen gewollt ist, mit Aplomb kippt. Je mehr die Macht verteilt scheint, desto konzentrierter hält die Kanzlerin die Fäden in der Hand. Konzentriert ist die Gestaltungsmöglichkeit, verteilt werden die Kritik und die Verantwortung. So kann sie bis zuletzt manövrieren und sich jener Seite zuschlagen, die die Menschen ohnehin präferieren. Wie kann man solch eine diffundierte Herrschaft ablösen? Merkel selbst betritt kaum je die Arena, sie vermeidet ganz getreu den Lehren des asiatischen Strategen Sun Tzu den politischen Zweikampf und hat damit schon gewonnen.
    Aber unser Regierungssystem wurde in Zeiten konzipiert, in denen es noch keine virtuelle Mediendemokratie gab, und es tut sich schwer damit, eine Person allzu lange mit allzu viel Macht auszustatten. Überhaupt lohnt es sich, die tiefere Funktionsweise der politischen Systeme zu bedenken und sich nicht nur von der personalisierten und sensationalisierten Dramaturgie der Duelle unterhalten zu lassen. Und da hilft ein Blick in die Vereinigten Staaten: Das ganze Jahr 2012 ergaben die Umfragen ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Amtsinhaber Obama und Herausforderer Romney. Aber Umfragen entscheiden keine Wahl. Wenn man sich die Zusammensetzung des Wahlmännerkollegiums ansah, das der demographischen Zusammensetzung der Bundesstaaten entsprach, und Faktoren wie Migration und Altersentwicklung berücksichtigte, hatte Obama schon sehr früh im Jahr eine nicht einzuholende Mehrheit. Aber wer schaut noch Nachrichten, wer kauft Zeitungen, wer abonniert Webseiten, wenn die Lage so klar ist? In der Bundesrepublik hingegen war sie über weite Monaten hinweg unklarer, als die Berichterstattung von der ewigen Kanzlerin glauben machte. Angela Merkel braucht eine Mehrheit der Abgeordneten im Bundestag, und der Abstand zwischen den Fraktionen und Lagern ist weit geringer als jener zwischen den Personen.
    Es bedurfte nur einer Verschiebung von ein oder zwei Prozent, eigentlich eines demoskopischen Windhauchs, dann wäre Peer Steinbrück der vierte sozialdemokratische Bundeskanzler der Nachkriegszeit und wegen der strategischen Dominanz des Landes im Euroraum und der Verwobenheit aller Währungs- und Wirtschaftsräume einer der mächtigsten Männer der Welt geworden. Und er wäre, selbst die Kanzlerin hat daran keinen Zweifel, ein guter Kanzler. Aber der Weg dahin war von einer geradezu absurden, nie zuvor erlebten oder beschriebenen Schwierigkeit. Steinbrück wirkte in den ersten Monaten seines Wahlkampfs wie ein erfahrener Admiral, der einen Flottenverband auf eine erfolgreiche Mission quer über die sieben Weltmeere führen kann und auch zurück, der aber weder Schiff noch Mannschaft hat und im Landesinneren festsitzt.
    Die Frage, die sich aufdrängte, lautete, ob dies nur eine konjunkturelle
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