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Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Titel: Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)
Autoren: Michael J. Sandel
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wurden alle drei Kameraden Luttrells getötet. Außerdem schossen die Taliban einen US -Hubschrauber ab, der die vier bergen wollte. Alle 16 Soldaten an Bord starben.
    Der schwerverletzte Luttrell schaffte es, am Leben zu bleiben – er fiel den Berghang hinunter und schleppte sich sieben Meilen weit in ein Paschtunen-Dorf, dessen Bewohner ihn vor den Taliban versteckten, bis er gerettet wurde.
    Im Rückblick verurteilte Luttrell seine Entscheidung, die Ziegenhirten laufen zu lassen. »Es war die dümmste, hirnverbrannteste, schwachsinnigste Entscheidung, die ich in meinem Leben getroffen habe«, schrieb er in einem Buch über das Erlebnis. »Ich muss vollkommen von Sinnen gewesen sein. Ich hatte eine Stimme abgegeben, die unser Todesurteil besiegeln konnte, das war mir klar (…). So sehe ich das zumindest im Rückblick (…). Meine Stimme gab den Ausschlag, und das wird mich verfolgen, bis man mich im Osten von Texas begräbt.« 40
    Das Dilemma der Soldaten war unter anderem deshalb so schwierig zu lösen, weil sie nicht wissen konnten, was geschehen würde, wenn sie die Afghanen laufen ließen. Würden sie einfach weiterziehen oder die Taliban warnen? Aber nehmen wir an, Luttrell hätte gewusst, dass die Freilassung der Ziegenhirten einen verheerenden Kampf nach sich ziehen würde, bei dem seine Kameraden und 16 weitere Amerikaner ihr Leben verlieren sollten – hätte er sich dann anders entschieden?
    Für Luttrell ist die Antwort im Nachhinein klar: Er hätte die Ziegenhirten töten sollen. Angesichts der darauf folgenden Katastrophe ist es schwer, dem zu widersprechen. In gewisser Weise ähnelt Luttrells Entscheidung dem Fall mit der Rangierlok. Hätte er die drei Afghanen getötet, hätte er das Leben seiner drei Kameraden und das der 16 Soldaten im Hubschrauber gerettet. Aber welcher Version der Lokgeschichte ähnelt sie? Entspräche die Tötung der drei Afghanen eher dem Umlenken der Lok auf ein Nebengleis oder dem Stoß, der den Mann auf der Brücke in die Tiefe stürzt? Die Tatsache, dass Luttrell die Gefahr vorhersah und es trotzdem nicht über sich bringen konnte, unbewaffnete Zivilisten zu töten, spricht dafür, dass sie eher dem Fall des Brückensturzes ähnelt.
    Dennoch scheint die Argumentation dafür, die Ziegenhirten zu töten, stärker zu sein als die Argumentation dafür, den Mann von der Brücke zu stürzen. Das liegt möglicherweise daran, dass wir angesichts des Resultats den Verdacht hegen, es könnte sich nicht um unschuldige Zivilisten, sondern um Sympathisanten der Taliban gehandelt haben. Sehen wir uns eine Analogie an: Hätten wir Grund zu der Annahme, der Mann auf der Brücke sei für das Bremsversagen der Lok verantwortlich, weil er gehofft hatte, dadurch die Männer auf dem Gleis zu töten (gehen wir davon aus, es seien seine Feinde gewesen), fiele es uns moralisch wesentlich leichter, ihn von der Brücke zu stoßen. Wir müssten allerdings immer noch wissen, wer seine Feinde waren und warum er sie töten wollte. Würden wir erfahren, dass die Arbeiter auf den Schienen zur französischen Widerstandsbewegung gehörten und der dicke Mann auf der Brücke ein Nazi sei, gäbe es moralisch überzeugende Gründe, ihn von der Brücke zu stürzen, um sie zu retten.
    Selbstverständlich besteht die Möglichkeit, dass die afghanischen Ziegenhirten keine Taliban-Sympathisanten waren, sondern von den Taliban nur gezwungen worden waren, die amerikanischen Soldaten zu verraten. Nehmen wir an, Luttrell und seine Kameraden hätten sicher gewusst, dass die Ziegenhirten nichts Böses im Schilde führten, aber von den Taliban gefoltert würden, damit sie ihre Stellung verrieten. Die Amerikaner hätten die Ziegenhirten dann trotzdem töten können, um ihren Auftrag und sich selbst nicht zu gefährden. Doch die Entscheidung, das zu tun, wäre weit belastender (und moralisch fragwürdiger) gewesen, als wenn sie gewusst hätten, dass die Ziegenhirten Spione der Taliban waren.

Moralische Zwickmühlen
    Nur wenige von uns sehen sich vor so schicksalhafte Entscheidungen gestellt wie die Soldaten auf dem Berg oder der Zeuge einer Lok mit versagenden Bremsen. Doch die Beschäftigung mit solchen Dilemmata sensibilisiert uns dafür, wie moralisch argumentiert wird – ob in unserem Privatleben oder in der Öffentlichkeit.
    In demokratischen Gesellschaften wird täglich darüber gestritten, was richtig und was falsch, was gerecht und was ungerecht ist. Manche Menschen sind für das Recht auf Abtreibung, andere
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