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Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Titel: Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)
Autoren: Michael J. Sandel
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Rettungsboots. Gegen den Rat der anderen hatte er Meerwasser getrunken und war krank geworden. Er schien im Sterben zu liegen. Am 19. Tag ihrer Tortur schlug Dudley, der Kapitän, vor, Lose zu ziehen, um zu bestimmen, wer von ihnen sterben sollte, damit die anderen überleben konnten. Doch Brooks weigerte sich, und so verzichtete man darauf.
    Der nächste Tag kam, und noch immer war kein Schiff in Sicht. Dudley wies Brooks an wegzuschauen und gab Stephens ein Zeichen, dass Parker getötet werden solle. Dudley sprach ein Gebet, sagte dem Jungen, seine Zeit sei gekommen, und tötete ihn dann, indem er ihm mit einem Federmesser die Halsschlagader durchtrennte. Brooks gab seine vom Gewissen diktierte Weigerung auf, um seinen Anteil an der grausigen Gabe in Anspruch zu nehmen.
    Vier Tage lang ernährten die Männer sich von der Leiche und dem Blut des Schiffsjungen. Dann kam Hilfe. In seinem Tagebuch schildert Dudley ihre Rettung mit einer umwerfenden Schönfärberei: »Am 24. Tag, als wir unser Frühstück einnahmen«, sei zuletzt doch noch ein Schiff erschienen. Die drei Überlebenden wurden an Bord genommen. Zurück in England wurden sie verhaftet und angeklagt. Brooks gab den Kronzeugen, Dudley und Stephens kamen als Angeklagte vor Gericht. Sie gaben offen zu, Parker getötet und verzehrt zu haben, und behaupteten, es aus purer Notwendigkeit getan zu haben.
    Nehmen wir an, wir wären in diesem Fall der Richter. Wie würden wir urteilen? Der Einfachheit halber wollen wir die Frage der gesetzlichen Vorschriften beiseitelassen und davon ausgehen, dass wir zu entscheiden hätten, ob es moralisch zulässig war, Parker zu töten.
    Das stärkste Argument zur Verteidigung läuft darauf hinaus, dass die Lage so verzweifelt war, dass der Tod eines Menschen notwendig wurde, um drei weiteren das Leben zu retten. Hätte man nicht einen Menschen getötet und verzehrt, wären wahrscheinlich alle vier gestorben. Parker, geschwächt und krank, war der logische Kandidat, da er ohnehin bald gestorben wäre. Und anders als Dudley und Stephens hatte er keine Angehörigen. Sein Tod nahm niemandem den Ernährer und hinterließ weder eine trauernde Ehefrau noch Kinder.
    Gegen dieses Argument lassen sich jedoch wenigstens zwei Einwände erheben: Erstens ist zu fragen, ob der Nutzen, der sich aus der Tötung des Schiffsjungen ergab, insgesamt gesehen die Kosten wirklich aufwog. Selbst wenn wir die Zahl der geretteten Leben und das Glück der Überlebenden sowie das ihrer Familien einrechnen, könnte es für eine Gesellschaft insgesamt schlimme Folgen haben, wenn man eine solche Tötung für zulässig hielte – etwa deswegen, weil sie die prinzipielle Ächtung von Mord und Totschlag in Frage stellen würde, weil die Neigung der Menschen zunähme, das Recht selbst in die Hand zu nehmen, oder weil es für Kapitäne schwieriger würde, Schiffsjungen anzuheuern.
    Aber selbst wenn, zweitens, der Nutzen alles in allem betrachtet schwerer wiegt als die Kosten: Befällt uns nicht das nagende Gefühl, es sei aus Gründen, die jenseits einer Berechnung sozialer Kosten und Vorteile liegen, einfach falsch, einen wehrlosen Schiffsjungen zu töten und zu verzehren? Ist es nicht falsch, einen Menschen auf diese Weise zu benutzen – seine Verwundbarkeit auszubeuten und ihm ohne seine Zustimmung das Leben zu nehmen, selbst wenn man damit anderen nützt?
    Für alle, denen das Handeln von Dudley und Stephens abscheulich vorkommt, dürfte der erste Einwand etwas lau daherkommen. Er übernimmt die utilitaristische Annahme, Moral bestehe darin, Kosten und Nutzen abzuwägen, und möchte einfach die gesellschaftlichen Folgen umfassender gewürdigt sehen.
    Wenn die Tötung des Schiffsjungen moralische Entrüstung rechtfertigt, dann trifft der zweite Einwand den Sachverhalt besser. Er verwirft die Vorstellung, richtiges Handeln lasse sich einfach dadurch bestimmen, dass man Kosten und Nutzen gegeneinander abwäge. Er legt nahe, dass Moral mehr bedeutet – dass sie etwas mit der Art und Weise zu tun hat, wie Menschen einander behandeln sollten.
    Diese beiden Möglichkeiten, über den Fall im Rettungsboot nachzudenken, illustrieren zwei konkurrierende Annäherungen an das Problem der Gerechtigkeit. Dem ersten Ansatz zufolge hängt die Moral einer Handlung allein von den Folgen ab, die sie nach sich zieht; richtig handeln wir demnach, wenn daraus nach Abwägung aller Umstände etwas Gutes herauskommt. Dem zweiten Ansatz zufolge dürfen wir uns moralisch gesehen nicht
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