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Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Titel: Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)
Autoren: Michael J. Sandel
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ausschließlich um die Konsequenzen einer Handlung sorgen, weil unser Sozialleben durch bestimmte unbedingt zu respektierende Pflichten und Rechte gekennzeichnet sein sollte.
    Wollen wir den Rettungsboot-Fall – wie auch viele nicht so extreme moralische Zwickmühlen, denen wir tagtäglich begegnen – lösen, müssen wir einige große Fragen der Moralphilosophie und der politischen Philosophie erörtern: Hängt Moral davon ab, dass wir Kosten und Nutzen gegeneinander abwägen (oder Leben gegeneinander aufrechnen)? Oder sind bestimmte moralische Pflichten und Menschenrechte so grundlegend, dass sie über solchen Abwägungen stehen? Und falls es solche Rechte gibt, mögen sie nun natürlich, heilig, unveräußerlich oder kategorisch heißen: Wie können wir sie finden? Und warum sind sie so fundamental?

Einwand 1: Die Rechte des Einzelnen
    Viele halten es für die eklatanteste Schwäche des Utilitarismus, dass er die Rechte des Einzelnen nicht achtet. Weil er sich nur um die Summe des Glücks kümmert, kann er rücksichtslos über einzelne Menschen hinweggehen. Natürlich, jeder zählt – aber nur in dem Sinn, dass die Vorlieben jedes Einzelnen gemeinsam mit denen aller anderen zu bilanzieren sind. Das aber heißt, dass die konsequent angewandte utilitaristische Logik eine Behandlung von Individuen billigt, die gegen grundlegende Normen des Anstands und der Achtung verstößt. Folgender Fall mag das illustrieren.
    Christen den Löwen vorwerfen
    Zur Belustigung der Massen warf man im Kolosseum des antiken Rom den Löwen Christen zum Fraß vor. Stellen wir uns vor, wie die utilitaristische Algebra ablaufen würde: Ja, der Christ erleidet entsetzliche Schmerzen, wenn die Löwen ihn zerfleischen und fressen. Aber denken wir doch an die kollektive Ekstase der jubelnden Zuschauer, die eng gedrängt im Kolosseum sitzen. Wenn genügend Römer aus dem gewalttätigen Schauspiel genügend Vergnügen ziehen, gibt es dann irgendeinen Grund, aus dem ein Utilitarist dies verurteilen könnte?
    Der Utilitarist mag besorgt sein, dass solche Spiele die Sitten verrohen und in den Straßen Roms mehr Gewalt entstehen lassen könnten; oder sie erzeugen Furcht unter möglichen Opfern, dass auch sie eines Tages den Löwen vorgeworfen werden könnten. Sind diese Auswirkungen hinreichend schlimm, ist durchaus denkbar, dass sie das durch die Spiele hervorgerufene Vergnügen überwiegen und dem Utilitaristen einen Grund geben, sie zu verbieten. Aber wenn diese Berechnungen der alleinige Grund dafür sind, dass man davon Abstand nimmt, Christen um der Unterhaltung willen einem gewaltsamen Tod zuzuführen, frage ich mich, ob da nicht etwas moralisch Bedeutsames übersehen wird.
    Ist Folter je gerechtfertigt?
    Eine ähnliche Frage ergibt sich in zeitgenössischen Debatten darüber, ob Folter bei der Befragung von Terrorismusverdächtigen je gerechtfertigt sei. Nehmen wir das Szenario mit der tickenden Zeitbombe: Stellen Sie sich vor, Sie seien der Leiter der örtlichen CIA -Zweigstelle. Sie nehmen einen Terrorverdächtigen fest, von dem Sie glauben, er verfüge über Informationen zu einer nuklearen Vorrichtung, die noch am selben Tag in Manhattan hochgehen soll. Tatsächlich haben Sie Grund zu der Annahme, er habe die Bombe selbst gelegt. Während Ihnen die Zeit davonläuft, weigert er sich, zuzugeben, dass er ein Terrorist ist, oder zu verraten, wo die Bombe ist. Wäre es richtig, ihn so lange zu foltern, bis er preisgibt, wo die Bombe sich befindet und wie man sie entschärfen kann?
    Die Gleichung ist einfach: Folter fügt dem Subjekt Schmerzen zu, was sein Glück oder seinen Nutzen erheblich mindert. Wenn jedoch die Bombe explodiert, werden Tausende Unschuldiger ihr Leben verlieren. Aus utilitaristischer Perspektive ist es moralisch zweifellos zu rechtfertigen, einem Einzelnen intensive Schmerzen zuzufügen, wenn damit in sehr großem Maßstab Tote und Leid zu verhindern sind. Die Ansicht des ehemaligen US -Vizepräsidenten Richard Cheney, die Anwendung harter Verhörmethoden gegen potentielle Al-Kaida-Terroristen sei gerechtfertigt, weil sie dazu beitragen könnte, einen weiteren Terrorangriff auf die USA zu verhindern, beruht auf dieser utilitaristischen Logik.
    Das soll nicht heißen, dass alle Utilitaristen Folter befürworten. Manche sind aus praktischen Gründen dagegen. Sie meinen, Folter funktioniere nur selten, da unter Zwang gewonnene Informationen oft unzuverlässig seien. Es werde also Schmerz zugefügt, doch die Gesellschaft
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