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Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Titel: Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)
Autoren: Michael J. Sandel
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das es zu bekämpfen gilt. Gesetze gegen Preiswucher können die Gier zwar nicht verhindern, aber zumindest ihre unverfrorensten Auswüchse eindämmen und zeigen, dass die Gesellschaft sie missbilligt. Eine Gesellschaft, die gieriges Verhalten eher bestraft als belohnt, fördert die Tugend, miteinander zu teilen und Opfer für das Gemeinwohl gemeinsam zu tragen.
    Obwohl dieses Argument einleuchtet, heißt das natürlich nicht automatisch, dass es stets Vorrang vor konkurrierenden Überlegungen haben muss. In manchen Fällen könnte man auch zu dem Schluss kommen, eine vom Hurrikan getroffene Gemeinschaft sollte einen Pakt mit dem Teufel schließen – also Wucherpreise gestatten, weil man hofft, damit eine Armee von Dachdeckern und anderen Aufbauspezialisten auf den Plan zu rufen, sogar um den Preis, dass man damit Gier billigt. Erst werden also die Dächer repariert, um das soziale Gefüge kümmern wir uns später. Trotzdem ist festzuhalten, dass die Debatte über Gesetze gegen Preiswucher – neben Fragen des Gemeinwohls und der Freiheit – auch immer die von uns geteilten Werte thematisiert. Es geht um die Frage, wie man die Einstellungen, Voraussetzungen und Charaktereigenschaften kultiviert, die in einer guten Gesellschaft wünschenswert sind.
    Manche Menschen, darunter auch viele, die Gesetze gegen Preiswucher befürworten, empfinden beim Tugend-Argument Unbehagen. Der Grund: Es scheint stärker wertend vorzugehen als Argumente, die sich auf das Allgemeinwohl und die Freiheit berufen. Die Frage, ob eine bestimmte Politik die wirtschaftliche Erholung beschleunigt oder wirtschaftliches Wachstum befeuert, lässt sich weitgehend wertfrei klären. Denn man geht davon aus, dass alle lieber mehr als weniger verdienen. Dabei ist es ganz egal, wie die Menschen ihr Geld ausgeben. Ähnlich verhält es sich mit der Frage, ob Menschen in einer Notlage wirklich frei entscheiden können – sie erfordert nicht, diese Entscheidungen zu bewerten. Die Frage ist lediglich, ob oder in welchem Ausmaß Menschen frei oder eben notgedrungen handeln.
    Dagegen beruht das Tugend-Argument auf dem Werturteil, dass Gier ein Laster sei, das der Staat nicht auch noch ermutigen sollte. Doch wer entscheidet darüber, was Tugend und was Laster ist? Lässt sich darüber in pluralistischen Gesellschaften nicht trefflich streiten? Und ist es nicht gefährlich, Werturteile per Gesetz durchzusetzen? Angesichts dieser Problematik halten viele Menschen daran fest, dass die Regierung in Fragen der Tugenden und der Laster neutral zu sein hat und nicht versuchen sollte, gute Einstellungen zu fördern und schlechten entgegenzuwirken.
    Wenn wir also unseren Reaktionen auf Preiswucher nachspüren, sehen wir uns in verschiedene Richtungen gezogen: Wir sind empört, wenn Menschen etwas bekommen, was ihnen nicht zusteht; Gier, die menschliches Elend ausnutzt, denken wir, sollte bestraft und nicht belohnt werden. Und doch sind wir besorgt, wenn Werturteile Eingang in die Gesetzgebung finden.
    Dieser Zwiespalt verweist auf eine der großen Fragen der politischen Philosophie: Soll eine gerechte Gesellschaft danach streben, die Tugend ihrer Bürger zu fördern? Oder sollte das Gesetz gegenüber konkurrierenden Entwürfen neutral sein, damit die Bürger selbst frei entscheiden können, wie sie am besten leben?
    Folgt man den Erklärungen aus den Lehrbüchern, scheidet sich an dieser Frage das politische Denken des Altertums von dem der Neuzeit. Das ist nicht ganz falsch. Wie Aristoteles lehrt, bedeutet Gerechtigkeit, den Menschen zu geben, was ihnen zusteht. Und um festzustellen, wem was zusteht, müssen wir bestimmen, welche Tugenden es wert sind, belohnt zu werden. Aristoteles besteht darauf, dass wir nicht herausfinden können, was eine gerechte Verfassung ist, ohne zuerst zu entscheiden, wie wir leben wollen. Für ihn kann das Gesetz gegenüber Fragen des richtigen Lebens nicht neutral sein.
    Moderne politische Philosophen – von Immanuel Kant im 18. bis John Rawls im 20. Jahrhundert – bringen hingegen vor, die Grundsätze der Gerechtigkeit sollten nicht auf irgendwelchen spezifischen Wertvorstellungen beruhen. Eine gerechte Gesellschaft achte vielmehr die Freiheit des Einzelnen, die eigene Vorstellung vom guten Leben selbst zu wählen.
    Man könnte also sagen, dass die alten Theorien zur Gerechtigkeit mit der Tugend beginnen, die modernen dagegen mit der Freiheit. In den folgenden Kapiteln erkunden wir Stärken und Schwächen beider Ansätze. Es lohnt sich
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