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Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Titel: Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)
Autoren: Michael J. Sandel
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versagen die Bremsen. Gleich wird die Lokomotive die Arbeiter erfassen. Hilflos erkennen Sie, dass Sie die Katastrophe nicht verhindern können. Doch dann sehen Sie einen ungeheuer dicken Mann neben sich auf der Brücke stehen. Sie könnten ihn so auf die Gleise stoßen, dass er den Weg der Lok blockiert. Er würde sterben, doch die fünf Arbeiter wären gerettet. (Sie denken kurz daran, selbst auf die Schienen zu springen, merken aber, dass Sie zu leicht sind und die Lok nicht stoppen können.)
    Wäre es richtig, den dicken Mann auf die Schienen zu stoßen? Die meisten Menschen würden sagen: »Natürlich nicht. Es wäre fürchterlich falsch, den Mann aufs Gleis zu stoßen.«
    Es scheint eine schreckliche Tat zu sein, jemanden von einer Brücke in den sicheren Tod zu stürzen, selbst wenn damit fünf unschuldige Leben gerettet werden. Das allerdings führt zu einem moralischen Rätsel: Warum scheint das Prinzip – ein Leben zu opfern, um fünf zu retten – im ersten Fall richtig zu sein, im zweiten dagegen falsch?
    Wenn es, wie unsere Reaktion auf den ersten Fall nahelegt, auf die Zahl ankommt – wenn es also besser ist, fünf Leben zu retten als eines: Warum sollten wir diesen Grundsatz nicht auch im zweiten Fall anwenden und den Mann hinabstürzen? Sicher, es wäre grausam, einen Mann zu Tode zu bringen, selbst wenn es um einer guten Sache willen geschieht. Aber ist es weniger grausam, einen Menschen durch den Zusammenstoß mit einer Rangierlok zu töten?
    Vielleicht ist es deswegen falsch, den Mann von der Brücke zu stürzen, weil er gegen seinen Willen für einen fremden Zweck benutzt wird. Er stand dort einfach nur herum.
    Doch dasselbe ließe sich auch für den Mann auf dem Nebengleis sagen. Auch er machte schließlich nur seine Arbeit und hat nicht freiwillig beschlossen, sein Leben wegen einer Lok mit versagenden Bremsen zu opfern. Man könnte zwar vorbringen, dass Bahnarbeiter immer ein gewisses Risiko eingehen, was für unbeteiligte Brückensteher nicht gilt. Doch wir wollen davon ausgehen, dass es nicht zur Stellenbeschreibung gehört, in einem Notfall sein Leben zu opfern, um andere zu retten, und dass der Arbeiter ebenso wenig damit einverstanden ist, sein Leben hinzugeben, wie der unbeteiligte Zuschauer auf der Brücke.
    Vielleicht liegt der moralische Unterschied nicht in der Wirkung – am Ende sind beide tot –, sondern in der Absicht des Menschen, der die Entscheidung trifft. Als Fahrer der Lok könnten Sie Ihre Entscheidung, das Fahrzeug auf das Nebengleis zu steuern, vielleicht damit begründen, dass Sie den Tod des Arbeiters nicht beabsichtigt hatten, auch wenn er vorhersehbar war. Ihr Ziel hätten Sie auch erreicht, wenn durch einen sehr glücklichen Zufall nicht nur die fünf Arbeiter verschont blieben, sondern auch der sechste.
    Doch genau das gilt auch im Fall des Brückensturzes. Der Tod des Mannes, den ich von der Brücke stoße, ist nicht beabsichtigt. Er soll lediglich die Lok aufhalten; wenn er dabei irgendwie am Leben bleibt, wären Sie höchst erfreut.
    Doch vielleicht sollten die beiden Fälle nach demselben Prinzip behandelt werden. Beide schließen eine willentliche Entscheidung ein, einem unschuldigen Menschen das Leben zu nehmen, um noch größere Verluste an Menschenleben zu verhindern. Vielleicht ist Ihr Widerstreben, den Mann von der Brücke zu stürzen, nur zimperlich – eine bloße Überempfindlichkeit, die Sie überwinden sollten. Einen Mann mit bloßen Händen zu Tode zu bringen scheint grausamer zu sein, als nur eine Weiche per Fernsteuerung umzulegen. Doch es ist nicht immer einfach, das Richtige zu tun.
    Diese Idee können wir überprüfen, wenn wir die Geschichte leicht abändern. Nehmen wir an, Sie könnten den dicken Mann auf die Schienen fallen lassen, ohne ihn zu stoßen; stellen wir uns vor, er steht auf einer Falltür, die Sie mit einem Hebel auslösen könnten. Kein Stoßen, gleiches Ergebnis. Wäre das besser? Oder ist es immer noch moralisch fragwürdiger, als wenn Sie als Lokführer auf das Nebengleis ausweichen würden?
    Es ist nicht einfach, die moralischen Unterschiede zwischen diesen Fällen zu erklären – warum es uns richtig vorkommt, die Lok umzulenken, während es falsch erscheint, den Mann von der Brücke zu stürzen. Trotzdem lastet ein starker Druck auf uns, eine überzeugende Unterscheidung zu finden – und wenn uns das nicht gelingt, unser Urteil darüber, was in jedem Fall das Richtige wäre, noch einmal zu überdenken. Das Nachdenken
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