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Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Titel: Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)
Autoren: Michael J. Sandel
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über moralische Fragen dient eben nicht nur dazu, andere zu überzeugen, sondern es ist auch eine Möglichkeit, die eigenen moralischen Überzeugungen auf die Reihe zu bekommen und herauszufinden, was wir glauben und warum.
    Einige moralische Zwickmühlen ergeben sich aus widerstreitenden moralischen Grundsätzen. Ein Grundsatz besagt beispielsweise, wir sollten möglichst viele Leben retten, ein anderer jedoch, es sei falsch, einen Unschuldigen zu töten, selbst um einer guten Sache willen. Angesichts einer Situation, in der die Rettung einiger Leben davon abhängt, einen Unschuldigen zu töten, stehen wir vor einem moralischen Dilemma, das uns zwingt, darüber nachzudenken, welcher Grundsatz gewichtiger oder den gegebenen Umständen angemessener ist.
    Andere moralische Zwickmühlen ergeben sich aus unserer Unfähigkeit, zukünftige Ereignisse mit Sicherheit voraussagen zu können. Hypothetische Beispiele wie die Lokgeschichte sparen die Ungewissheit aus, die über den Entscheidungen schwebt, denen wir im richtigen Leben begegnen. Solche Geschichten unterstellen, wir wüssten sicher, wie viele Leute sterben werden, wenn wir nicht auf das Nebengleis fahren bzw. niemanden hinabstoßen. Als Handlungsanleitungen taugen solche Storys nur bedingt. Aber genau deswegen sind sie nützliche Werkzeuge für eine moralische Analyse. Weil zufällig eintretende Umstände ausgeklammert sind – »Was wäre, wenn die Arbeiter die Lok sehen und beiseite springen?« –, helfen uns diese hypothetischen Beispiele, die auf dem Spiel stehenden moralischen Grundsätze herauszuarbeiten und zu untersuchen, wie stark sie sind.

Die afghanischen Ziegenhirten
    Kommen wir nun zu einer aktuellen moralischen Zwickmühle, die der phantasievollen Geschichte mit der Lok ohne Bremsen in mancher Hinsicht ähnelt, aber wegen der Ungewissheit über ihren Ausgang komplizierter ist.
    Im Juni 2005 brach ein US -Sondereinsatzkommando mit Petty Officer Marcus Luttrell und drei anderen Soldaten der US -Navy- SEAL s zu einer geheimen Erkundungsmission in Afghanistan auf. Die Gruppe sollte in der Nähe der Grenze zu Pakistan einen Taliban-Führer aus der Umgebung Osama bin Ladens aufspüren. 37 Nach Geheimdienstberichten befehligte die Zielperson 140 bis 150 bewaffnete Kämpfer und hielt sich in einem Dorf in der schwer zugänglichen Bergregion auf.
    Kurz nachdem die Gruppe auf einem Bergrücken Stellung bezogen hatte, von dem aus das Dorf zu überblicken war, wurden sie zufällig von zwei afghanischen Bauern mit etwa 100 meckernden Ziegen entdeckt. Ein etwa 14 Jahre alter Junge begleitete sie. Die Afghanen waren unbewaffnet. Die amerikanischen Soldaten richteten ihre Gewehre auf sie, zwangen sie dazu, sich auf den Boden zu setzen, und besprachen dann, was mit ihnen zu tun sei. Bei den Ziegenhirten schien es sich um unbewaffnete Zivilisten zu handeln. Würde man sie ziehen lassen, liefe man allerdings Gefahr, dass sie die Taliban über die Anwesenheit der US -Soldaten informierten.
    Während die vier Soldaten ihre Handlungsoptionen erwogen, bemerkten sie, dass sie kein Seil dabeihatten. Damit war ausgeschlossen, dass sie die Afghanen fesseln und so Zeit gewinnen konnten, um in Ruhe nach einem neuen Versteck zu suchen. Ihnen blieb nur, sie entweder zu töten oder freizulassen.
    Einer von Luttrells Kameraden plädierte dafür, die Ziegenhirten umzubringen: »Wir sind auf Befehl unserer Vorgesetzten hinter den feindlichen Linien im Einsatz. Wir haben das Recht, alles Notwendige zu tun, um unser Leben zu schützen. Die militärisch gebotene Lösung liegt auf der Hand. Es wäre falsch, sie laufen zu lassen.« 38 Luttrell war innerlich zerrissen. »Als Soldat wusste ich, dass er recht hatte«, schrieb er rückblickend. »Wir konnten sie unmöglich freilassen. Doch mein Problem ist, dass ich auch ein Christ bin und eine christliche Seele habe, die mir sagte, dass es falsch wäre, diese unbewaffneten Männer kaltblütig zu töten.« 39 Luttrell erklärt nicht genau, was er mit seiner christlichen Seele meinte, aber am Ende erlaubte ihm sein Gewissen nicht, die Ziegenhirten zu töten. Er gab die entscheidende Stimme ab, sie freizulassen. (Einer seiner drei Kameraden hatte sich enthalten.) Es war eine Entscheidung, die er bereuen sollte.
    Etwa eineinhalb Stunden nach der Freilassung der Ziegenhirten sahen sich die vier Soldaten von 80 bis 100 Taliban-Kämpfern umzingelt, die mit Kalaschnikows und Panzerfäusten bewaffnet waren. In dem folgenden heftigen Feuergefecht
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