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Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Titel: Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)
Autoren: Michael J. Sandel
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verschieden sein. Tatsächlich finden einige der am härtesten geführten Debatten unserer Zeit zwischen zwei rivalisierenden Lagern statt, die beide die Freiheit in den Vordergrund stellen – die einen haben sich den Laissez-faire-Gedanken auf die Fahnen geschrieben, die anderen die Fairness.
    Anführer des Laissez-faire-Lagers sind die Marktliberalen, die glauben, der Kern der Gerechtigkeit bestehe darin, die von erwachsenen Menschen in gegenseitigem Einvernehmen getroffenen Entscheidungen zu respektieren. Im anderen Lager finden sich die Theoretiker mit einer eher egalitären Neigung. Sie betonen, dass unkontrollierte Märkte weder gerecht noch frei seien. Ihrer Ansicht nach erfordert Gerechtigkeit eine Politik, die soziale und ökonomische Benachteiligungen ausgleicht und jedem eine faire Erfolgschance bietet.
    Schließlich wenden wir uns Theorien zu, für die Gerechtigkeit mit der Tugend und dem guten Leben verknüpft ist. In der heutigen Politik werden Tugendtheorien oft mit Kulturkonservativen und der religiösen Rechten assoziiert. Für viele Bürger freiheitlicher Gesellschaften ist die Vorstellung, Fragen der Moral gesetzlich regeln zu wollen, ein Gräuel, weil damit die Gefahr verbunden ist, in Intoleranz und Zwang zurückzufallen. Doch der Gedanke, dass eine gerechte Gesellschaft gewisse Tugenden und Vorstellungen vom guten Leben bestärkt, hat politische Bewegungen und Diskussionen quer durch das ideologische Spektrum inspiriert. Nicht nur die Taliban, sondern auch die Abolitionisten und Martin Luther King haben ihre Visionen von der Gerechtigkeit aus moralischen und religiösen Idealen bezogen.
    Bevor wir versuchen, all diese Theorien zur Gerechtigkeit zu bewerten, lohnt sich ein Blick auf die schwierige Frage, wie philosophische Argumentationen entwickelt werden – besonders auf so umstrittenen Gebieten wie Moralphilosophie und politischer Philosophie. Am Anfang steht häufig eine konkrete Situation. Wie wir in unserer Erörterung von Preiswucher, Verwundetenabzeichen und Bankenrettung gesehen haben, ist eine öffentlich geführte Debatte ein guter Ausgangspunkt für moralische und politische Überlegungen. Oft herrscht diese Uneinigkeit zwischen verschiedenen Fraktionen im öffentlichen Raum, manchmal aber auch nur in uns selber – etwa wenn wir uns angesichts einer schwierigen moralischen Frage nicht für eine Seite entscheiden können.
    Wie aber können wir von den Urteilen, die wir anhand konkreter Situationen fällen, argumentativ zu den Grundsätzen der Gerechtigkeit vorstoßen, die unserer Ansicht nach universell anwendbar sein sollten? Kurz, wie funktioniert unsere moralische Vernunft?
    Dafür wollen wir uns im Folgenden zuerst zwei Geschichten zuwenden: einer phantasievollen hypothetischen Geschichte, die unter Philosophen häufig erörtert wird, und einer aktuellen Geschichte über ein quälendes moralisches Dilemma.
    Sehen wir uns zunächst die hypothetische Philosophengeschichte an. 36 Wie alle Erzählungen dieser Art ist sie vieler realistischer Komplikationen entkleidet worden, damit wir uns auf eine begrenzte Zahl philosophischer Fragen konzentrieren können.

Die Rangierlok ohne Bremsen
    Stellen Sie sich vor, Sie sind der Fahrer einer Lokomotive, die mit 90 Stundenkilometern über die Schienen rattert. In einiger Entfernung stehen fünf Arbeiter auf dem Gleis, die Werkzeuge in der Hand. Sie versuchen, die Lok anzuhalten, doch das geht nicht. Die Bremsen greifen nicht. Sie sind verzweifelt, weil Ihnen klar ist, dass die Arbeiter alle sterben werden, wenn Sie sie überfahren (gehen wir davon aus, dass das gewiss geschehen wird).
    Plötzlich entdecken Sie ein nach rechts abzweigendes Nebengleis. Auch auf diesem Gleis befindet sich ein Arbeiter – aber eben nur einer. Sie merken, dass Sie die Lok auf dieses Nebengleis dirigieren können, was den einen Arbeiter das Leben kosten, die anderen aber retten würde.
    Was werden Sie tun? Die meisten Menschen würden sagen: »Abbiegen! Auch wenn es eine Tragödie ist, einen Unschuldigen zu töten, ist es doch noch schlimmer, gleich fünf umzubringen.« Es erscheint ihnen richtig, ein Leben zu opfern, um fünf Leben zu retten.
    Nehmen wir nun eine andere Version der Lokgeschichte. Diesmal sind Sie nicht der Fahrer, sondern ein Zuschauer, der auf einer über die Gleise führenden Brücke steht (und es ist kein Nebengleis vorhanden). Auf den Schienen nähert sich eine Rangierlok, in einiger Entfernung stehen fünf Arbeiter auf dem Gleis. Auch jetzt
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