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Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Titel: Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)
Autoren: Michael J. Sandel
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betrachten Abtreibung als Mord. Manche glauben, es sei eine Frage der Fairness, die Reichen zu besteuern, damit den Armen geholfen werden könne, während andere glauben, es sei unfair, durch Steuern Geld abzugreifen, das die Leute durch eigene Anstrengung verdient haben. Manche verteidigen Sozialquoten beim Hochschulzugang als Weg, Fehler aus der Vergangenheit zu korrigieren, während andere darin eine unfaire Form umgekehrter Diskriminierung gegen Menschen sehen, die es aufgrund ihrer Leistung verdient haben, zum Studium zugelassen zu werden. Manche Leute verwerfen die Folter von Terrorverdächtigen als moralische Abscheulichkeit, die einer freien Gesellschaft unwürdig sei, andere verteidigen sie als letztes Mittel, einen Terroranschlag zu vereiteln.
    Mit solchen Debatten werden Wahlen gewonnen und verloren. Sie sind das Thema unserer sogenannten Kulturkämpfe. Angesichts der Leidenschaft und Intensität, mit denen wir moralische Fragen im öffentlichen Leben diskutieren, könnten wir versucht sein zu glauben, dass unsere moralischen Überzeugungen durch Erziehung oder Glauben ein für alle Mal festgelegt seien – außerhalb der Reichweite der Vernunft.
    Doch wenn das zuträfe, dann wäre moralische Überzeugungsarbeit undenkbar, und was wir für öffentliche Debatten über Gerechtigkeit und Rechte halten, wäre nichts weiter als eine Flut dogmatischer Behauptungen – ein ideologisch motivierter Grabenkampf, in dem man sich mit Argumenten wie mit Tomaten oder faulen Eiern bewirft.
    In ihren schlimmsten Ausprägungen kommt die amerikanische Politik diesem Bild recht nahe. Doch das muss nicht zwangsläufig so sein. Manchmal kann eine vernünftige Auseinandersetzung unser Denken verändern.
    Wie also können wir mit unserer Vernunft so erfolgreich durch das umstrittene Terrain navigieren, in dem es um Fragen der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Gleichheit und Ungleichheit, die Rechte des Einzelnen und das Allgemeinwohl geht? Das ist das Thema dieses Buches.
    Ein Weg, unsere moralische Reflexion zu schulen, besteht in der Konfrontation mit schwierigen moralischen Problemen. Wir fragen uns, wie wir uns in einer besonders kniffligen Situation verhalten würden, und entscheiden: »Wir lenken die Lok auf ein Nebengleis.« Dann denken wir über den Grund unserer Überzeugung nach und suchen nach dem Prinzip, auf dem sie beruht: »Es ist richtig, ein Leben zu opfern, um den Tod vieler Menschen zu verhindern.« Wenn wir uns dann jedoch eine Situation vorstellen, die diesen Grundsatz zweifelhaft werden lässt, reagieren wir irritiert: »Ich dachte, es sei immer richtig, möglichst viele Leben zu retten, und doch scheint es falsch zu sein, den Mann von der Brücke zu stoßen (oder die unbewaffneten Ziegenhirten zu töten).« Aus dieser Irritation erwächst der Impuls der Philosophie.
    Es ist die Spannung zwischen intuitiven Urteilen und unseren Grundsätzen, die uns zwingt, Letztere immer wieder in Frage zu stellen oder unsere Urteile zu überdenken. Moralische Reflexion bedeutet, zwischen unseren Urteilen und unseren Prinzipien hin- und herzuwechseln und sie jeweils im Licht des anderen zu revidieren. Sie ist die Pendelbewegung von der Welt des Handelns zum Reich der Gründe und zurück.
    Die Methode, eine moralische Argumentation in der dialektischen Bewegung zwischen unseren Urteilen zu konkreten Situationen und unseren Prinzipien zu entwickeln, hat eine lange Tradition. Sie geht zurück auf die Dialoge des Sokrates und die Moralphilosophie des Aristoteles. Doch ungeachtet ihres hohen Alters steht die Methode vor folgender Herausforderung:
    Wenn moralische Reflexion darin besteht, eine Übereinstimmung zwischen unseren Urteilen und den von uns behaupteten Grundsätzen zu suchen – wie kann eine solche Überlegung uns zur Gerechtigkeit oder zur moralischen Wahrheit führen? Selbst wenn es uns im Laufe eines Lebens gelingt, unsere moralischen Intuitionen und unsere Prinzipien in Einklang zu bringen – warum sollte das Ergebnis mehr sein als ein in sich stimmiges Geflecht von Vorurteilen?
    Die Antwort lautet, dass moralische Reflexion keine einsame Beschäftigung ist, sondern Gegenstand öffentlicher Anstrengung. Sie erfordert einen Gesprächspartner – einen Freund, Nachbarn, Kameraden oder Mitbürger. Manchmal kann der Gesprächspartner nur in der eigenen Vorstellung existieren, etwa wenn wir mit uns selbst diskutieren. Doch die Bedeutung von Gerechtigkeit oder die beste Art zu leben können wir niemals allein durch
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