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Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)

Titel: Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun (German Edition)
Autoren: Michael J. Sandel
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Introspektion entdecken.
    In Platons Politeia vergleicht Sokrates im Höhlengleichnis die Bürger eines Staats mit einer Gruppe von Gefangenen, die in einer Höhle eingeschlossen sind. Alles, was sie sehen können, ist das Spiel der Schatten an der Wand, den Widerschein von Objekten, die sie niemals unmittelbar wahrnehmen werden. In dieser Geschichte ist allein der Philosoph imstande, aus der Höhle ins helle Tageslicht zu steigen, wo er die Dinge so sieht, wie sie wirklich sind. Sokrates behauptet, nur der Philosoph, der die Sonne erblickt habe, sei geeignet, die Höhlenbewohner zu regieren – wenn man ihn irgendwie durch eine List dazu bringen könne, wieder in die Dunkelheit zurückzukehren, in der sie hausen.
    Platons Gleichnis läuft darauf hinaus, dass wir uns, um die Bedeutung von Gerechtigkeit und die Natur des guten Lebens begreifen zu können, über die Vorurteile und gewohnten Abläufe des Alltags erheben müssen. Damit hat er, wie ich meine, recht – wenn auch nur teilweise. Auch die Wahrnehmung der Höhlenbewohner hat ihre Berechtigung. Wenn moralische Reflexion nämlich dialektisch abläuft – wenn sie wechselt zwischen den Urteilen, die wir in konkreten Situationen treffen, und den Grundsätzen, die diesen Urteilen zugrunde liegen –, so müssen wir uns auch mit Meinungen auseinandersetzen, die uns möglicherweise voreingenommen oder dumm erscheinen. Eine Philosophie, die sich von den Schatten an der Wand nicht berühren lässt, kann nur ein steriles Utopia liefern.
    Wenn moralische Reflexion politisch wird und fragt, welche Gesetze unser kollektives Leben lenken sollten, muss sie sich ein Stück weit auf das Marktgeschrei einlassen – auf die Streitfragen und Skandale, die die Öffentlichkeit in Atem halten. Debatten über Bankenrettung und Preiswucher, ungleiche Einkommen und Quotenregelungen, Militärdienst und gleichgeschlechtliche Ehen sind der Stoff der politischen Philosophie. Sie veranlassen uns, unsere moralischen und politischen Überzeugungen zu artikulieren und zu rechtfertigen – nicht nur unter Familienmitgliedern und Freunden, sondern auch in der öffentlichen Arena unter den kritischen Blicken unserer Mitbürger.
    Natürlich kommen in diesem Buch auch die politischen Philosophen der Antike wie der Neuzeit zu Wort, die auf manchmal radikalen und überraschenden Wegen jene Ideen durchdacht haben, um die in unserer Zivilgesellschaft gestritten wird – Gerechtigkeit und Rechte, Verpflichtung und Übereinkunft, Ehre und Tugend, Moral und Gesetz. Aristoteles, Immanuel Kant, John Stuart Mill und John Rawls – sie alle spielen auf den folgenden Seiten eine Rolle. Doch die Reihenfolge ihres Auftretens ist nicht chronologisch geordnet. Dieses Buch ist keine Ideengeschichte, sondern eine Reise durch die Gefilde der Moral und der politischen Reflexion. Mir kam es nicht darauf an, zu zeigen, wer in der Geschichte des politischen Denkens wen beeinflusst hat, sondern ich möchte die Leser dazu einladen, die eigenen Ansichten über Gerechtigkeit einer kritischen Untersuchung zu unterziehen – um herauszufinden, was sie denken und warum.

2
Das Prinzip des größten Glücks
    UTILITARISMUS
    Im Sommer 1884 überlebten vier englische Seeleute einen Schiffbruch im Südatlantik. Auf einem kleinen Rettungsboot trieben sie mehr als tausend Meilen vom Land entfernt durchs Meer. Ihr Schiff, die Mignonette , war im Sturm gesunken, und es waren ihnen nur zwei Konservendosen mit Rüben geblieben; Süßwasser hatten sie keines. Thomas Dudley war der Kapitän, Edwin Stephens der Erste Maat und Edmund Brooks ein einfacher Seemann – »alles Männer von hervorragendem Charakter«, wie Zeitungsberichten zu entnehmen war. 1
    Das vierte Mitglied der Mannschaft war der Schiffsjunge Richard Parker, 17 Jahre alt. Der Waise absolvierte seine erste lange Seereise. Er hatte sich gegen den Rat seiner Freunde dazu verpflichtet, »voll der Hoffnungen und der jugendlichen Ambitionen«, weil er meinte, die Reise werde einen Mann aus ihm machen. Leider sollte es anders kommen.
    Von ihrem Rettungsboot aus beobachteten die vier Schiffbrüchigen den Horizont in der Hoffnung, ein Schiff werde vorbeikommen und sie retten. In den ersten drei Tagen verzehrten sie kleine Rationen der Rüben. Am vierten Tag fingen sie eine Schildkröte. Die nächsten Tage überstanden sie mit der Schildkröte und den verbliebenen Rüben. Und dann aßen sie acht Tage lang gar nichts.
    Mittlerweile lag der Schiffsjunge Parker in einer Ecke des
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