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Das Geheimnis der Äbtissin

Das Geheimnis der Äbtissin

Titel: Das Geheimnis der Äbtissin
Autoren: Johanna Marie Jakob
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    Eschwege, anno 1220
    A lle, die von dieser Geschichte wussten, sind tot. Alle – bis auf mich. Einige starben zur rechten Zeit eines natürlichen Todes, die meisten wurden umgebracht. Und heute Nacht werden sie kommen, mich zu töten.
    »Seniles Gejammer eines alten Mannes!«, würde Hanna sagen, wenn sie mich hören könnte. Die gute alte Seele weiß von nichts. Ich habe sie zu ihrer Schwester geschickt. Den Hund gab ich ihr mit, unter einem fadenscheinigen Vorwand, bei dem sie mir einen ihrer skeptischen Blicke zuwarf. Ich duldete keinen Widerspruch. Ich will nicht, dass sie den treuen Kerl einfach erschlagen.
    Die Angst hockt in den dunklen Winkeln meiner Kammer wie ein triefäugiger alter Wolf, zu faul, die Beute fahrenzulassen, und zu feige, sie anzuspringen. Und die Nacht wird sich hinziehen wie die Predigt des Bischofs an Allerseelen.
    Ich bin froh, dass es heute vorbei sein wird. Seit der Messe am Sonntag weiß ich, dass der Sand für mich zum letzten Mal durchs Glas rinnt. Im Seitenschiff des Doms stehen Gerüste. Der Küster zeigte mir Risse im Mauerwerk, in die er seine flache Hand schieben konnte. Die Fundamente geben nach, ein Tribut an den Sumpf, auf dem die mächtigen Mauern errichtet worden sind. Der Mann meinte, die Säulen müssten verfestigt werden. Tags darauf ließ der Dombaumeister um die Sockel der Hauptsäulen schachten.
    Am Nachmittag sah ich von meinem Erker aus den Meister zur Burg reiten. Unbarmherzig peitschte er sein Pferd. Später kam ein Planwagen, auf den sie verluden, was unter weißen Tüchern versteckt war. Da wusste ich, dass sie den Sarg gefunden hatten, eine massive Eisenkiste mit kompliziertem Schließmechanismus, wie ihn nur die besten Schlossermeister beherrschen. Auf dem stumpfen Metall ist die Geschichte zu lesen, Wort für Wort eingraviert mit feinen Buchstaben und Zeichen.
    Ich sehe sie vor mir, die Herren, wie sie ihre Köpfe zusammenstecken und ihre harten Blicke die Zeilen entlanghasten. Wie sie die Luft anhalten, als sie schließlich unten links auf dem schweren Eisendeckel meine Initialen finden. Mit naivem Stolz auf meine ärmliche Leistung hatte ich sie unter meine Arbeit gesetzt, schwungvoll die beiden Buchstaben meines Namens ineinanderverhakt. Ich war jung und wusste nichts von den Tücken des Schicksals.
    Mit der einsetzenden Dämmerung ritten Bewaffnete mit dem schwarzen Adler auf ihren Schilden durch die Stadt und zur Burg hinauf.
    Die Geschichte auf dem Sarg stirbt mit mir. Es ist gut so. Sind nicht alle tot, die Nutzen aus der Wahrheit hätten ziehen können? Es ist genug Blut geflossen.
    Sie werden glauben, dass sie die Wahrheit aus mir herauspressen müssen, mit Daumenschrauben oder der Eisernen Jungfrau. Doch da irren sie. Ich werde ihnen alles erzählen, auch wenn das mein letztes Stündlein schneller heranbringt. Was bedeutet jetzt noch Zeit? Die Wahrheit kann niemandem mehr schaden – außer dem Kaiser. Die Äbtissin verschwand vor Jahren spurlos, Gott allein weiß, was sie mit ihr angestellt haben. Ich mochte sie, denn sie behandelte mich mit Respekt, nicht von oben herab wie manch andere Auftraggeber. Sie hatte diese Güte in den Augen …
    Unten fällt die Haustür ins Schloss. Polternde Schritte auf den Dielen der Halle, dann knarren die Stufen zu meiner Kammer. Es sind mindestens drei Männer. Sie geben sich keine Mühe, leise zu sein.

 
     
    Ich gesach den sumer nie, daz er so schone duhte mich:
    mit menigen bluomen wohlgetan div heide hat gezieret sih.
    sanges ist der walt so vol;
    div zit div tuot den chleinen volgelen wol.
     
    Ich habe den Sommer (noch) nie (so) gesehen,
    dass er mir so schön vorkam:
    Mit vielen Blumen schön beschaffen,
    hat sich das Brachland geschmückt.
    Von Gesang ist der Wald so voll;
    Die Jahreszeit tut den kleinen Vögeln gut.
     
    Carmina Burana 152 a

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    Burg Lare, Sommer anno 1156
    D ie Frühmesse zog sich in die Länge. Judith stand zwischen Ludwig und Beringar. Die Jungen drängten sich in der morgendlichen Kühle dicht an die Schwester. Isabella dagegen hatte sich den Platz neben der Amme Katharina erobert, deren üppiger Körper Wärme ausstrahlte und die Zugluft abhielt. Der junge Burgpfarrer Pater Martinus sprach mit schleppender Stimme über den Sündenfall und dessen Folgen. In seiner Leinenkutte, mit weit ausgebreiteten Armen, wirkte er wie ein großer grauer Vogel, der zum Fliegen ansetzt. Die Kinder scharrten unruhig mit den Füßen, in denen die Kälte aus dem festgestampften
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