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Geheimnis des Feuers

Geheimnis des Feuers

Titel: Geheimnis des Feuers
Autoren: Henning Mankell
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aus. Lydia machte dasselbe, dann auch Sofia, Maria und Alfredo. Sie wiegten die Körper und jetzt trauten sie sich zu weinen und ihre Trauer und ihren Schmerz herauszuschreien, sodass es zu hören war.
    Dann gingen sie weiter auf die Berge zu. Die alte Frau folgte ihnen und sie teilte das Fleisch eines toten Vogels mit ihnen. In einem fast ausgetrockneten Flussbett fanden sie Wasser zu trinken.
    Nachts schliefen sie am Feuer unter mächtigen Baobabbäumen und es geschah, dass Sofia Maria weckte, als sie einen Löwen in der Dunkelheit brüllen hörte. Die alte Frau hatte ihnen nicht ihren Namen genannt. Aber sie hatte ein freundliches Lächeln, obwohl sie keinen einzigen Zahn mehr hatte.
    In Sofias Träumen kehrten die Monster zurück. Wenn eins der Ungeheuer erneut sein Beil über ihrem Vater erhob, wurde sie wach. Lydia schlief zusammengerollt, Alfredo dicht an ihren Körper geschmiegt. Die alte Frau schlief am Feuer, das jetzt nur noch schwach glomm. Maria lag an ihrer anderen Seite. Sofia dachte, dass vielleicht Muazenas Geist in der alten Frau wiedergekehrt war, die ihren Namen nicht nannte.
    In der frühen Morgendämmerung setzten sie ihre Wanderung fort, auf die Berge zu, die immer noch weit entfernt schienen. Plötzlich meinte Sofia zu hören, wie Mama Lydia die alte Frau nach der Stadt fragte. »Ich bin niemals dort gewesen«, antwortete die Alte. »Ist es weit bis dorthin?«, fragte Lydia. »Die Stadt liegt weit entfernt, damit solche wie du und ich und deine Kinder sie nicht erreichen. Meine Beine sind alt und voller Schwären, die deiner Kinder viel zu kurz und zu jung. Keiner von uns hat Beine, die dazu gemacht sind, die Stadt zu erreichen.«
    Lydia fragte nicht mehr. Schweigend gingen sie weiter. Es war sehr heiß. Sie versuchten sich vor der Sonne zu schützen, indem sie ihre Capulana (Farbiges Tuch, das die Frauen wie eine Art Wickelrock tragen.)um die Köpfe schlangen.
    Die alte Frau hatte noch ein wenig Wasser in einem schmutzigen Plastikbehälter. Doch als der Nachmittag schon weit vorangeschritten war, konnten sie noch immer keine Andeutung von Baumgruppen entdecken. Das wäre ein Zeichen gewesen, dass es in der Nähe Wasser gab. In der kurzen Dämmerung blieb die alte Frau plötzlich stehen und setzte sich mühsam auf die trockene Erde. »Bis hierher bin ich gekommen«, sagte sie nach einer Weile des Schweigens. »Und nun bin ich am Ende.« Lydia trug Sofia und Maria auf, Holz für ein Feuer zu sammeln.
    »Aber hier gibt es doch keine Bäume«, sagte Sofia. »Wo sollen wir schlafen?«
    »Tut, was ich sage«, antwortete Lydia. Ihre Stimme klang müde. »Wir bleiben heute Nacht hier.« Sofia wollte mehr fragen. Wer sollte sie gegen die Raubtiere schützen? Was würde geschehen, wenn das Feuer erlosch und kein Baumgeist da war, der über sie wachte? Aber sie wagte nicht zu fragen. Mama Lydias Stimme war anzuhören gewesen, dass sie im Augenblick keine Antworten mehr hatte. Zusammen mit Maria und Alfredo sammelte sie trockenes Gras und Holzstöckchen. Sofia hielt sich die ganze Zeit nah bei Alfredo. Es könnte Schlangen geben und er war noch zu klein und hatte nicht genügend Verstand, sich vor ihnen zu fürchten.
    Sie zündeten das Feuer an und Sofia sah, dass die alte Frau unbeweglich mit offenen Augen dasaß.
    »Will sie nichts essen?«, fragte Sofia, als sie den Rest des getrockneten Fleisches aßen.
    »Sie hat keinen Hunger«, antwortete Lydia.
    »Will sie nicht schlafen?«, fragte Sofia leise, als sie sich am Feuer zusammengekauert hatten.
    »Sie schläft schon«, antwortete Lydia. »Frag nicht mehr. Schlaf.«
    Am Tag darauf, in der Dämmerung, als Sofia erwachte, saß die alte Frau in derselben Haltung da. Ihr Körper war ganz steif. Sofia begriff, dass auch sie nun tot war.
    Sie berührte Lydia, die sofort wach war. »Sie ist tot«, sagte Sofia.
    Lydia erhob sich und ging zu der Alten. Sie schaute sie an ohne etwas zu sagen. Dann weckte sie Maria und Alfredo und befahl Sofia, den Plastikbehälter der alten Frau mitzunehmen.
    Als sie schon ein ganzes Stück gegangen waren, drehte Sofia sich um. Wie einen fernen Schatten konnte sie die alte Frau erkennen. Vielleicht war sie schon in eine der verzerrten toten Baumwurzeln verwandelt worden, die auf der roten trockenen Erde verstreut lagen. Sofia hatte viele Fragen. Sie fragte sich, warum sie in diese Welt von lauter Toten getrieben worden war. Wenn ich nur die hohen Berge erreiche, dachte sie. Dahinter muss es lebendige Menschen geben.
    Sie
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