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Geheimnis des Feuers

Geheimnis des Feuers

Titel: Geheimnis des Feuers
Autoren: Henning Mankell
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heruntergezogen zur Erde und schon berühren ihre Fußsohlen den trockenen Boden.
    Da wird sie wach.
    Sie ist schweißnass, ihr Herz hämmert und im ersten Augenblick weiß sie nicht, wo sie ist. Doch dann hört sie die Atemzüge ihrer schlafenden Geschwister und ihrer Mama. Sie liegen dicht nebeneinander auf dem Fußboden der kleinen Hütte. Vorsichtig streckt sie die Hand aus und tastet über Mamas Rücken. Die bewegt sich ohne wach zu werden. Sofia liegt mit offenen Augen in der Stille und der Dunkelheit. Mama Lydias Atemzüge sind leicht und unregelmäßig, als ob sie schon wach wäre und die Grütze vorbereitete, die sie morgens essen. Links von ihr liegen Alfredo und Faustino.
    Sofia denkt daran, dass bald noch jemand auf dem Boden der Hütte schlafen wird. Mama Lydia wird bald ein Kind gebären. Sofia hat sie schon so viele Male dick werden sehen. Sie weiß, dass es nur noch wenige Tage dauert. Sie denkt an den Traum. Jetzt, da sie wach ist, ist sie gleichzeitig erleichtert und froh, aber auch traurig. Sie denkt daran, wovon der Traum handelt. An das, was an jenem Morgen vor einem Jahr geschah. Sie denkt an Maria, deren Atemzüge sie nicht mehr in der Dunkelheit hört.
    Maria, die fort ist.
    Sofia liegt lange wach in der Dunkelheit. Irgendwo da draußen ruft eine Eule, eine vorsichtige Ratte raschelt draußen vor der Strohwand der Hütte. Sie denkt an das, was an jenem Morgen geschah, als alles wie immer war und sie und Maria auf dem Weg zum Acker draußen vor dem Dorf waren, um Lydia beim Unkrautjäten zu helfen.
    Und sie denkt an alles, was vorher geschah.
    2.
    Es war die alte Muazena, die Sofia und Maria vom Geheimnis des Feuers erzählt hat.
    Jede Flamme hat ihr Geheimnis. Wenn man im richtigen Abstand von den Flammen sitzt, kann man tief hineinsehen und erfahren, was im Leben geschehen wird, in der Zukunft, während all der Tage, die ungenutzt vor jedem Menschen liegen. Muazena zeigte mit ihrer alten, runzligen und zitternden Hand zu einem Acker, auf dem verschiedene Pflanzen in Reihen standen. »So sieht das Leben aus«, sagte Muazena. »Jeder Tag ist eine Pflanze, die ihr pflegen und gießen müsst, von Unkraut befreien und einmal ernten werdet. Jede Pflanze ist ein Tag in eurem Leben, den ihr noch nicht gelebt habt.«
    Im Feuer leben auch alle Erinnerungen. Auch das hatte die alte Muazena Sofia und Maria erzählt, als sie noch klein waren. Indem man ins Feuer schaut, kann man Erinnerungen hervorlocken, von denen man meint, man habe sie für allezeit vergessen.
    Sofia dachte oft an Muazena. Aber Muazena war nicht mehr da. Genauso wenig wie Maria. Wenn Sofia an Muazena dachte, dachte sie an die Zeit, als sie noch nicht auf der Flucht sein mussten. Das war vor der langen Reise, ehe sie sich hier am Fluss niedergelassen hatten. Das war die gute Zeit gewesen, als sie kaum wusste, was Schmerz war. Oder Trauer. Oder Hunger. Oder das Schlimmste von allem: Einsamkeit.
    Damals hatten sie gelebt, wo sie immer gelebt hatten. Am besten konnte Sofia sich an das Dorf erinnern. Dort waren alle Hütten rund und hatten kunstvoll geflochtene Dächer aus Palmblättern. Dort war sie geboren worden, genau wie Maria und Alfredo. Und ihr Vater Hapakatanda hatte sie hoch in den Himmel hinaufgehoben und sie die Sonne begrüßen lassen. Sie hatte festgebunden auf dem Rücken ihrer Mutter gesessen, Lydia, die damals die schönste und stärkste Frau des ganzen Dorfes war. Sofia hatte auf ihrem Rücken gesessen, während Lydia vorgebeugt in der trockenen Erde hackte. Wenn sie an diese Zeit dachte, hörte sie immer Musik in ihrem Innern. Die Trommeln und die eintönige Melodie einer Timbila (Ein afrikanisches Instrument aus Holz.) . In ihrem Körper verwahrte Sofia immer noch das Echo der schaukelnden Bewegungen, wenn ihre Mutter mit den anderen Frauen tanzte. Sie konnte sich nicht erinnern, damals je hungrig gewesen zu sein. Oder ängstlich. Das war die glückliche Zeit gewesen. Auch davon hatte Muazena erzählt. Sie hatte vom Paradies erzählt. Und sie hatte gesagt, das Glück sei nur dort, wo wir einmal gewesen sind, nachdem wir es verloren haben.
    Dann war das geschehen, was sie bis jetzt versucht hatte zu vergessen. Aber die Erinnerung war wie eine Narbe in der Haut, die niemals verschwindet.
    Es war Nacht.
    Kein Mond, keine Sterne.
    Plötzlich explodierte ihr ganzes Leben. Ein scharfer weißer Schein füllte die Hütte, dann kam eine Serie starker Explosionen. In ihrer Erinnerung, jener Erinnerung, die sie am liebsten von
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