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Geheimnis des Feuers

Geheimnis des Feuers

Titel: Geheimnis des Feuers
Autoren: Henning Mankell
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geschehen war. »Wir haben das Meer gesehen«, sagte Sofia. »Hast du das Meer schon einmal gesehen?«
    Lino schüttelte den Kopf. »Eines Tages werde ich durch die ganze Welt reisen«, sagte er. »Und ich werde doppelt so viel sehen wie alle anderen.«
    Dann erzählte er ihnen von der Schule. Der weiße Pfarrer und die beiden Nonnen unterrichteten die Kinder im Dorf. Sie wollten, dass alle Kinder jeden Tag kamen, damit sie lesen, schreiben und rechnen lernten. »Wir haben kein Geld«, sagte Sofia, die gern zur Schule gegangen wäre.
    »Wir müssen unserer Mutter helfen und arbeiten«, sagte Maria.
    »Es kostet kein Geld«, sagte Lino. »Denkt ihr, ich habe Geld? Warum sollte ich mit nur einem Schuh herumlaufen, wenn ich Geld hätte?«
    »Es geht trotzdem nicht«, sagte Maria. »Wir müssen arbeiten. Was sollten wir sonst essen?« »Die Schule findet nur nachmittags statt«, sagte Lino. »Jeden Tag drei Stunden. Ich kann schon fast lesen.«
    Nachdem Lino gegangen war, saßen sie im Schatten auf der Rückseite des Hauses.
    »Ich glaube, er hat gelogen«, sagte Maria. »Eine Schule kann nicht kostenlos sein. Außerdem haben wir nur zerrissene Kleider. Ich glaube nicht, dass man in zerrissenen Kleidern zur Schule gehen kann.«
    »Hauptsache ist ja wohl, man ist nicht schmutzig«, sagte Sofia. »Ich glaube nicht, dass er gelogen hat. Warum sollte er das tun?«
    »Es geht jedenfalls nicht«, sagte Maria. »Wir müssen Lydia helfen. Wer soll sich um Alfredo kümmern, wenn wir in der Schule sind? Wir können ihn nicht dorthin mitnehmen.«
    »Vielleicht könnten wir jeden zweiten Tag hingehen«, sagte Sofia zögernd.
    »Und nur jeden zweiten Buchstaben lernen«, sagte Maria, »jede zweite Zahl?«
    Sie diskutierten weiter hin und her. Dabei vergaßen sie Alfredo ganz. Keine hatte je davon träumen können, in die Schule gehen zu dürfen. In dem Dorf, in dem sie früher mit Hapakatanda, Muazena und allen Verwandten und Freunden gelebt hatten, gab es keine Schule. Nur der Schreiber des Dorfes, der auf eine Missionsschule gegangen war, konnte schreiben und lesen. Er war es, der alle Briefe schrieb, wenn jemand im Dorf einen Brief schreiben musste, er las die verschiedenen Bekanntmachungen vor, die vom Gouverneur oder von einer anderen wichtigen Person kamen.
    Sollte es wirklich möglich sein, dass sie in die Schule gehen durften? Dann, dachte Sofia, war es nicht nur schlecht, dass sie zur Flucht gezwungen worden waren. Dann gab es wenigstens etwas daran, was gut war. Sie hatte das Meer gesehen. Vielleicht durfte sie zur Schule gehen. Das würde niemals ausgleichen, dass Hapakatanda, Muazena und ihre Geschwister tot waren. Das würde nicht einmal ausgleichen, dass die Banditen auch ihre Hunde umgebracht hatten. Trotzdem war es etwas.
    »Alfredo«, sagte Maria plötzlich und sprang auf. Lydia hatte Angst, er könnte im Fluss ertrinken oder von einem Krokodil gefressen werden. Sie hatte auch Angst, er könnte von einer Schlange gebissen werden. Sie stürzten ums Haus herum. Dann konnten sie aufatmen. Alfredo war an der Hauswand eingeschlafen. Der Wind blies ihm die staubige Erde ins Gesicht. Im Schlaf wedelte er eine Fliege weg, die in seine Nase hineinzukriechen versuchte.
    An diesem Abend erzählten sie Lydia, was sie von Lino erfahren hatten. Lydia war spät am Nachmittag zurückgekommen und in der einen Hand hatte sie ein Stück Seife. Zuerst gingen sie hinunter zum Fluss und wuschen sich. Während zwei nach Krokodilen Ausschau hielten, wusch sich die Dritte. So wechselten sie sich ab.
    Lydia war guter Laune, sie stand halb nackt im Wasser und wusch sich und sang.
    »Wir reden heute Abend mit ihr«, sagte Maria. »Wenn sie singt, ist sie guter Laune. Aber du musst fragen.« »Ich«, sagte Sofia erschrocken. »Du bist doch die Älteste.«
    »Du kannst am besten reden«, sagte Maria. »Wenn ich also die Älteste bin, bestimme ich, dass du Mama fragst.«
    Sie saßen um die Schüsseln mit Maisbrei und Salatblättern in der Dämmerung, nahmen sich mit den Fingern und aßen schweigend. Maria sah Sofia an und runzelte die Stirn. Das hieß, sie sollte jetzt anfangen zu reden. Mama Lydia saß niemals unnötig still und untätig herum. Nach dem Essen würde sie sofort mit den Vorbereitungen für die Nacht beginnen, die dünnen Decken aufrollen, auf denen sie lagen, und die Capulanas darüber breiten, mit denen sie sich zudeckten.
    »Es gibt hier eine Schule«, sagte Sofia. »Die ist kostenlos. Dort kann man lesen, schreiben und rechnen
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