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Geheimnis des Feuers

Geheimnis des Feuers

Titel: Geheimnis des Feuers
Autoren: Henning Mankell
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wanderten lange, viele Tage. Später dachte Sofia, alles sei wie ein Traum gewesen. Vielleicht war es so, dass man in Träumen auf Reisen gehen konnte? Vielleicht konnte man über Berge klettern und durch halb ausgetrocknete Flussbetten waten, ohne dass man wach wurde? Aber in der Nacht kehrten die verzerrten Gesichter zurück. Die Monster beugten sich über sie und sie wurde mit einem Ruck wach. Dann wichen die Monster zurück. Doch sie waren immer in ihrer Nähe, das wusste sie. Die Monster sahen sie, ohne dass Sofia sie sehen konnte.
    Sie wanderten lange, viele Tage.
    Sofia fragte Lydia, wohin sie unterwegs waren.
    »Fort«, antwortete Lydia. »Fort vom toten Hapakatanda und deinen Geschwistern.«
    Sofia versuchte sich vorzustellen, dieses »Fort« sei ein Ort, vielleicht ein Dorf, das es schon irgendwo gab und das auf sie wartete. Aber gleichzeitig dachte sie, dass sie, die nicht mehr auf dem Rücken ihrer Mutter getragen wurde, nicht solche kindischen Gedanken haben durfte.
    Fort war fort, nirgendwo.
    Eines Tages sah Sofia zum ersten Mal das Meer. Sie waren einen Hügel hinaufgestiegen, es war spät am Nachmittag und Sofias Füße waren geschwollen und voller Wunden.
    Da sah sie zum ersten Mal das Meer. Ein Fluss ohne Ufer auf der anderen Seite. Türkis schimmerndes Wasser, über das keine Brücken hinüberführen konnten. Obwohl Sofia das Meer noch nie gesehen hatte, war ihr sofort, als ob sie heimgekommen wäre. Es war, als ob es auch im Unbekannten etwas Vertrautes gab. Vielleicht hatte sie jetzt eins der Geheimnisse entdeckt, über die Muazena mit ihr gesprochen hatte, eins der Geheimnisse des Feuers. Vielleicht war es so, dass auf alle Menschen, die von Banditen oder Monstern aus ihrer Heimat verjagt wurden, irgendwo ein anderer Ort wartete. Vielleicht musste man sich nur hinsetzen, wie es die alte Frau getan hatte. In dem Augenblick, wenn die letzten Kräfte den Menschen verließen, würde er eine Heimat erreichen, die er nicht kannte.
    Sie gingen weiter bis ans Meeresufer. Der Sand war anders, weicher unter den Füßen. Lydia ließ sich im Schatten eines Baumes am Ufer niedersinken. Zusammen liefen Sofia und Maria hinunter zum Wasser. Sie kosteten davon und es war salzig. Sie wateten hinaus, bis sie hörten, wie Lydia ihnen zurief vorsichtig zu sein.
    Hinterher fragte Sofia, ob sie jetzt angekommen seien. Lydia schüttelte den Kopf.
    »Wie sollten wir hier leben können?«, fragte sie. »Wie sollten wir etwas zum Wachsen bringen im Sand? Wie sollten wir im Meer pflanzen? Wir müssen weiter.« Das Meer vergaß Sofia nie. Als sie am nächsten Tag ihre Wanderung ins Landesinnere fortsetzten, schaute sie noch oft zurück, um das Wasser zu sehen, das kein Ende zu haben schien.
    Nach einer langen Zeit erreichten sie ein Dorf, in dem Lydias Mann Hapakatanda entfernte Verwandte hatte.
    Der Anführer des Dorfes, ein alter Mann, der fast blind war, übermittelte ihnen die Botschaft, dass sie bleiben dürften. Sie bauten eine kleine Hütte aus Stroh und Lehm am Rande des Dorfes und morgens gingen Lydia, Sofia und Maria mit den anderen Frauen zur Arbeit auf die Felder. Doch eines Tages kam ein Mann angelaufen und erzählte, dass ein Nachbardorf in der letzten Nacht von den Banditen überfallen worden war.
    Am selben Nachmittag flohen alle aus dem Dorf und sie nahmen nur ihre Ziegen mit. Mehr als einen Monat versteckten sie sich aus Angst, die Banditen könnten sie finden. Sie hatten fast nichts zu essen und ernährten sich von Wurzeln, Eidechsen und Mäusen, die sie fingen.
    Währenddessen wurde Alfredo sehr krank. Sofia glaubte, dass auch er sterben müsste. Wenn ein Kind vor Kälte zu zittern begann, obwohl die Sonne heiß brannte, dann wusste sie, dass der Tod begonnen hatte, dem Kind seinen gefährlichen Atem durch die Nasenlöcher einzublasen. Aber Alfredo wurde wieder gesund. Als die Dorfbewohner beschlossen, in ihr altes Dorf zurückzukehren, sagte Lydia, dass sie nicht mitkommen würden, sie wollten ihre Wanderung fortsetzen. »Wohin wollen wir?«, fragte Sofia. »Dorthin, wo es keine Banditen gibt.« »Wo ist das?« »Ich weiß es nicht. Frag nicht so viel.«
    Die ganze Zeit fürchtete Sofia, ihre Mama könnte dasselbe machen wie die alte Frau. Sich auf die Erde setzen und zu einer Baumwurzel erstarren. Dann wäre Sofia allein mit Maria und Alfredo und sie wusste nicht, wie sie wieder nach Hause finden sollte. Jeden Abend, wenn sie ihr Lager einrichteten, beobachtete Sofia ihre Mutter heimlich. Würde sie
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