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Gefühltes Wissen

Gefühltes Wissen

Titel: Gefühltes Wissen
Autoren: Horst Evers
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Dann springt mein Recorder mit Zeitschaltuhr an. Mein Cassettenrecorder wünscht ihrem Cassettenrecorder einen guten Morgen. Danach tauschen die beiden Recorder Komplimente und Zärtlichkeiten aus. Das ist schön. Haben diese Bänder schon vor langer Zeit aufgenommen. Damit die Beziehung nicht in puren Pragmatismus und nur noch Kinderdienst abgleitet. Überlege, was wir eigentlich noch für Bänder haben. Das Kind ist jetzt angezogen. Hält mir anklagend die Anziehsachen hin. Weigere mich, die blöde Wollunterhose anzuziehen. Kind sagt, wir haben keine Zeit zum Diskutieren, draußen is' kalt, du warst diesen Winter schon genug krank. Und jetzt schnell, wir sind spät dran. Frage mich, ob das alles so richtig is'. Dann nehmen wir uns in den Arm. Ja, is' schon alles richtig.

    8.40 Uhr: Auf Höhe des zweiten Stocks im Treppenhaus springt das dort deponierte Band an und fragt, ob wir auch die Monatskarte haben. Gehen nochmal zurück.

    8.45 Uhr: Das Kind zieht mich den Bürgersteig entlang. Ich kann nicht so schnell, außerdem kratzt die doofe Wollunterhose.

    8.50 Uhr: Der Busfahrer fragt beim Einsteigen, ob wir auch an die Bastelsachen gedacht haben. Heute ist doch Basteltag in der Kita. Verdammt. Vergessen. Er lächelt und holt eine Tüte mit Bastelzeug hervor. Kein Problem, er hat sich schon so was gedacht. Dann sagt er, er braucht noch unseren Kita-Aktionsplan für die nächste Woche, er kann sich sonst nicht vorbereiten. Diesmal in zweifacher Ausführung, weil, Dienstag und Donnerstag hat ein anderer Fahrer Dienst. Und ich soll die Tage, wo ich Kinderdienst habe, rot markieren. Denke, stimmt schon, was man so sagt: Um so ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf.

    8.53 Uhr: Es ist heiß im Bus. Bin knallrot. Die blöde Wollunterhose bringt mich um.

    8.55 Uhr: Aussteigen am Nollendorfplatz. In der Trattoria gastiert am Abend ein Shownudelesser aus Rheine. Irgendjemand baut vor der U-Bahn eine Fernsehkamera auf. Darauf steht: Alle Sender. Immer live!
    An der Ampel fragt ein Mann nach dem Weg zur CDU-Parteizentrale. Ein anderer antwortet: «Na hier geradeaus, über die Ampel, dann links, kurz rechts, stehen bleiben, Ampel, rüber, dann links oder geradeaus, is egal, aber denn müssen Se hinterher rechts oder links rechts, denn kommen Se nicht rüber, Stück links, Ampel rüber, rechts, is dann da, verstanden?»
    Die beiden Männer starren sich an. Die gesamte Wegbeschreibung hat vielleicht mal eine knappe Sekunde gedauert. Jetzt stehen sie sicher 20 Sekunden starrend voreinander. Dann nimmt der Ortskundige den Gesprächsfaden wieder auf:
    - Verstanden?
    Der Fragende entschließt sich zu lügen.
    - Ich glaub ja, ja, schon irgendwie.
    - Na, ich weiß ja nich, wie müssen Sie denn an der zweiten Ampel?
    Jetzt starren sie sich wieder an.
    - Zweite Ampel, hamm Se nich zugehört?
    - Ääääh, links?
    - Schon verkehrt.
    - Rechts?
    - Nein, jetzt ist die Ampel schon wieder rot. Na, das kann ja was werden.
    Der erste Mann geht los. Sehe, wie der andere ihm folgt.

    9.05 Uhr: Im Kinderladen. Die Kinder diskutieren fröhlich und angeregt, dass es immer schwieriger wird, die Eltern morgens in Gang zu bringen. Die Eltern stehen apathisch starrend im Flur und schwitzen. Ein paar schimpfen murmelnd auf die doofe Wollunterwäsche. Der kleine Moritz ist traurig, weil sein Busfahrer seine Bastelsachen vergessen hat. Alle schimpfen ein bisschen auf die BVG.

    9.15 Uhr: Stürme außer Sichtweite des Kinderladens auf eine Citytoilette und ziehe die lange Wollunterhose aus. Der süße Duft der Anarchie durchweht die öffentliche Toilette.

    9.20 Uhr: Raus aus der Toilette. Fühle mich gut. Endlich kann ich wieder die klare, kalte Berliner Luft spüren, wie sie direkt durch die Jeans auf meine männliche Beinhaut trifft. Das ist Freiheit. … … Mir wird kalt. Gehe zurück zur Toilette und ziehe wieder die lange Wollunterhose an.

    9.25 Uhr: Ein Mann hetzt durch die Maaßenstraße. Erkenne den, der nach der Parteizentrale sucht. Er schaut sich ängstlich um. Zehn Meter hinter ihm der andere.
    - Faaalsch, falsch!!! Sie laufen völlig falsch. Das wird ja nie was! So, wir gehen jetzt nochmal zum Ausgangspunkt zurück und Sie probierend neu. Nochmal ganz von vorn. Ich erklär Ihnen den Weg doch nicht zum Spaß.

    9.30 Uhr: Nollendorfplatz. Vor der Kamera Alle Sender, immer live! steht mittlerweile Udo Walz. Hinter ihm warten schon Wolfgang Joop und Ben Becker. Ein Mitarbeiter des Teams erklärt mir, dass sie diese Kamera jeden Tag
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