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Gefühltes Wissen

Gefühltes Wissen

Titel: Gefühltes Wissen
Autoren: Horst Evers
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gehalten hätte. Ich antwortete wahrheitsgemäß und umfassend: «Wahnsinn», und er steckte mir eine Banane zu. Ansonsten musste man in der nächsten Zeit fürs Einkaufen immer mindestens eine Stunde veranschlagen, also eine Stunde, bis man überhaupt mal im Aldi drin war. Anfangs nicht schlimm, weil, man konnte ja an der Grenze frühstücken. Wenn man direkt an der Grenze drehte und so tat, als käme man aus dem Osten, gab's noch 'ne Weile Obst für lau. Nach zwei, drei Tagen holten sich eigentlich nur noch Westler an der Grenze Obst. Den Ostlern wars wohl irgendwann zu blöd geworden. Dann sollte das Obst und alles auf einmal total viel Geld kosten. Es kam zum Streit, wir wurden als undankbare Ossis beschimpft, es begann das Ost-West-Gezänke. Erst mal aber nur zwischen Wessis. Viele Menschen, auch im Westen, fingen ein ganz neues Leben an. Mein Nachbar Karl erwirtschaftete sich mit Ost-West-Pfandflaschen-Schmuggel und dem Vertrieb von Mauerstücken das Grundkapital für eine illegale mobile Wechselstube für Ost- und Westmark am Bahnhof Zoo. Viele sahen plötzlich die Chance ihres Lebens. Andere wurden schlagartig politisiert. Selbst Jochen, der eigentlich BWL studierte, brach alles hinter sich ab und ging in den Osten, um ein Haus zu besetzen. Nur ich machte so weiter wie früher, nämlich erst mal nichts.
    Knapp anderthalb Jahre später erreichte die zweite Ausstrahlung der «Kampf gegen die Mafia»-Serie wieder ihren Höhepunkt mit der Folge von Vinnie Terranovas Enttarnung. Oder besser, sie hätte sie erreichen sollen. Kurz vorm Vorspann musste ich nochmal schnell auf Toilette. Als ich zurückkam, war da plötzlich die Einblendung: «Alle nachfolgenden Sendungen verschieben sich auf unbestimmte Zeit.» Im Hintergrund die tiefschwarze Nacht von Bagdad, in der es ab und zu grün flackerte. Der erste Golfkrieg hatte begonnen. Damals hieß er noch: der Golfkrieg. Diesmal nicht direkt vor meiner Haustür, was gut war, weil, das wäre ja wahrscheinlich noch lauter gewesen. Obwohl, immerhin hatte ich noch meine Schuhe an. Vier Stunden das grüne Flackern angestarrt, dann eingeschlafen. Als ich am nächsten Morgen erwachte, war die Stadt bekloppt geworden. Überall hingen weiße Bettlaken aus dem Fenster. Täglich gab's Demonstrationen. Allgemeine Angst. Damals hatte der Irak sogar noch richtige Mittelstreckenraketen. Unvergesslich die Bild-Schlagzeile: «Gut für Berlin, irakische Raketen kommen nur bis Österreich!» Aus meinem Golfkriegstagebuch jener Zeit der Eintrag:
    «Am Morgen nochmal vier Stunden Videoaufzeichnung von grünem Flackern geguckt. Dann still gesessen.
    Schlechtes Gewissen. Die anderen, ja, die anderen, die machen was, die wehren sich, die hängen Bettücher aus dem Fenster, und du? Du sitzt nur rum. Wäscheschrank durchgewühlt. Finde nur rote und schwarze Bettwäsche. Gilt die auch? Weiß nicht. Nähe zwölf weiße Geschirrhandtücher zusammen. Hänge sie raus. Sieht im Parterre schon komisch aus. Aber wenigstens tu ich endlich mal was. Gehe zum Laden an der Ecke, der mittlerweile eigentlich ein Existenzgründerberatungsbüro ist, aber aus irgendwelchen Gründen auch Zigaretten verkauft. Als ich zurückkomme, sind die Geschirrtücher weg. Trockne später mein Geschirr mit der Bettwäsche ab.
    Nachbar Karl betreibt jetzt einen schwunghaften Handel mit Gasmasken aus NVA-Beständen. Jochen hat sein politisches Besetzerprojekt in ein alternatives Wohnprojekt umgetauft und verhandelt mit dem Senat. Das endlose und letztlich doch auch eher monotone grüne Geflacker beschert den Sendern erstaunliche Quoten. Auf den Geschmack gekommen, ersetzen sie es durch völlig neue, revolutionäre Sendekonzepte. In den folgenden Jahren werden Space-TV, Kaminfeuer, S-Bahn-Fahrten und vor allem Fische, die durch irgendein Aquarium schwimmen, zu den absoluten Rennern im Nachtprogramm. Ich bemerke den Unterschied erst einige Monate später.
    Sommer 1992. RTL 2 unternimmt einen letzten Versuch mit «Kampf gegen die Mafia», aber immer wieder fliegen Folgen, auch die entscheidende, aus dem Programm. Die Anlässe: ausländerfeindliche oder antisemitische Anschläge in Rostock, Solingen, Mölln oder anderswo. Eine eingepinkelte Jogginghose wird zum Symbol für das neue Deutschland. Als Foto des Jahres geht sie um die Welt. Nachbar Karl betreibt jetzt einen lukrativen Handel mit gefälschten Weltkriegsorden. Im Laden an der Ecke, der mittlerweile eigentlich ein CD-Verleih ist, aber aus irgendwelchen Gründen auch
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