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Gefühltes Wissen

Gefühltes Wissen

Titel: Gefühltes Wissen
Autoren: Horst Evers
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schafft das gar nicht alles in ein paar Tagen. Besorge dir bitte Berlinführer und Stadtplan, damit du die Sehenswürdigkeiten gezielt und vor allem selbständig erkunden kannst.
    2.     Trage städtische, nicht zu auffällige Kleidung.
    3.     Sprich niemanden an. Wenn du in der Stadt etwas wissen willst, brüll die Frage laut vor dich hin. Das machen wir in Berlin so.
    4.     Lies bitte sorgfältig die Standardwerke: «Berlin Alexanderplatz» und «Wir Kinder vom Bahnhof Zoo». Das kann hier jederzeit abgefragt werden.
    5.     Es wird nicht berlinert. Das ist ganz wichtig. Egal, wie gut und lustig du das auch zu können glaubst: Es wird nicht berlinert!
    6.     Über Berlin schimpfen oder meckern darf nur, wer auch in Berlin wohnt. Alle anderen beschränken sich bei ihrer Beurteilung der Stadt bitte auf Äußerungen wie:
    «Ooh… toll… boarhh… haste noch nich' gesehen… so was gibt's bei uns aber nicht… boarh… toll… so groß… Mensch, hier würd ich auch gerne wohnen… schon imposant… beeindruckend… boarh… toll. «
    7.     Vor 8.30 Uhr wird in der Wohnung nicht gesprochen oder gelächelt. Niemand in Berlin macht das. Um das zu überprüfen, kannst du gerne mal hier in Berlin um sieben mit Bus oder U-Bahn fahren. Auf dem Rückweg kannst du dann Frühstück mitbringen.

In der Botschaft
    Die Frau neben uns im Warteraum der Schweizer Botschaft sieht glücklich aus. Sie will heiraten und freut sich schon darauf, es dem Schweizer Botschaftsangestellten mitzuteilen. Erst vor kurzem hat sie den Mann am Stuttgarter Hauptbahnhof kennengelernt. Er hing auf einmal an ihrem Koffer, sagt sie. Sie lässt uns vor, weil sie so gute Laune hat und weil ich das Kind dabeihabe. Kinder auf Ämtern oder in Supermarktschlangen können Wartezeiten verkürzen. Häufiger, als man denkt. Das sollte die Regierung mal als Argument für die Familienpolitik aufgreifen, aber auf so was kommen die ja gar nicht.
    Diesmal geht es aber auch ums Kind. Es soll einen Reisepass bekommen. Vom Botschaftsangestellten erfahren wir, dass das Ausstellen dieses schlichten Dokuments sagenhafte 42 Euro Bearbeitungsgebühr kosten soll. Ich sage:
    - Was?
    Der Botschaftsangestellte lächelt mich an. Ich sage nochmal:
    - Was?
    Der Botschaftsangestellte lächelt weiter, er kennt diese Reaktion wohl schon und wartet geduldig, bis ich noch siebenmal «Was?» gesagt habe. Dann beginnt er das Formular auszufüllen.
    Gut, es ist ein Schweizer Pass, in der Schweiz ist alles teurer, aber trotzdem: 42 Euro. Denke, dass wir dann ja wohl besser nächstes Mal den Pass bei einem privaten Passhersteller in der Kantstraße oder so kaufen. Da kriegste doch so 'n neuen Ausweis oder Papiere mittlerweile bestimmt billiger als auffem Amt. Und man kann sich sogar Nationalität und Namen neu aussuchen.
    Der Botschaftsangestellte starrt mich an. Stelle fest, dass ich wohl laut gedacht habe. Dann ist plötzlich doch die Frau dran. Rund eine Stunde später ist unser einseitiges Formular ausgefüllt. Ist ja nochmal gut gegangen.

Ein ganz normaler Tag in Berlin
    7.00 Uhr: Wecker klingelt. Mache ihn aus. Im Kopf tausend Fragen. Aber eine dominiert: Warum habe ich den Wecker auf 7 Uhr gestellt? Was will ich mir damit beweisen? Ist das bloße Angeberei? Guck mal, wenn ich einen Tag von mir beschreibe, geht das schon um 7 Uhr los. Hm. Warum nicht. Sollen ruhig alle wissen, wie früh ich nämlich schon aufstehe. Bin stolz. Döse dann nochmal weg.

    8.00 Uhr:  Wache auf wegen Bauchschmerzen. Schlimme Bauchschmerzen. So ein Drücken. Stoßartiges Drücken. Mal links, mal rechts, mal in der Mitte. Kaum auszuhalten. Denke, wenn das noch schlimmer wird, muss ich was dagegen tun. Womöglich aufstehen oder so. Die Aussicht macht mich müde. Schaue an mir runter und sehe mein Kind auf meinem Bauch herumhüpfen. Das Kind sagt, ich soll aufstehen. Kommen sonst zu spät in den Kinderladen. Sage, wir könnten doch heute mal schwänzen. Kind fragt, warum. Weiß nicht. Bauchschmerzen? Kind beginnt auf dem Gesicht zu hüpfen, fragt, ob es dem Bauch jetzt besser geht. Die Mutter vom Kind sagt dem Kind, es soll aufhören. Ich sei dran mit zum Kinderladen bringen. Und wenn das Kind mich kaputt macht, muss sie raus in die Kälte. Mein Kind hört auf zu hüpfen und holt meine Anziehsachen. Schaue dankbar zur Mutter. Sehe, dass sie immer noch schläft. Neben ihr der laufende Cassettenrecorder mit Zeitschaltuhr. Jetzt wünscht mir der Cassettenrecorder einen guten Morgen.
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