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Gefühltes Wissen

Gefühltes Wissen

Titel: Gefühltes Wissen
Autoren: Horst Evers
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Zigaretten verkauft, treffe ich Jochen. Er hat für sein Wohnprojekt echt faire Mietverträge mit Kaufoption bekommen. Sony und Mercedes bekommen zu noch faireren Konditionen den Potsdamer Platz. Der wird abgerissen, und es entsteht das größte Loch Europas. Ein großartiges Loch. Alle Berliner sind sehr stolz auf dieses Loch, das zu Recht zur wichtigsten Sehenswürdigkeit der Stadt wird.
    Fünf Jahre lang riskiert kein Sender mehr die Ausstrahlung von «Kampf gegen die Mafia». Bis im Herbst 97 VOX eine lange Nacht der Serie wagt. Doch just in dem Moment, als die entscheidende Folge beginnen soll, kommt die Schalte nach Paris. Di und Dodi tot. Autounfall. Die fällige Beerdigung wird zum vielleicht größten Fernsehereignis der 90er Jahre. Ein Auszug aus meinem damaligen Tagebuch:
    «Samstagmorgen, auf dem Weg zum REWE-Markt. Hab's eilig, die Beerdigung läuft, und ich will auf keinen Fall verpassen, wie Elton John singt. Im REWE-Markt eine Hektik wie noch nie, alle kramen nur schnell ihr Zeugs zusammen, summen ‹Candle In the Wind› und stürmen dann wieder nach Hause zum Fernseher. Die Kassiererinnen schauen sich die Waren nur kurz an, schätzen den Preis, damit's schneller geht und sie wieder auf den kleinen Monitor an den Kassen starren können. Auch ich greife mir nur wahllos möglichst bunte Sachen, die mein Stammhirn beim ersten Anblick als ‹Ernährung, die man nicht lange kochen muss› eingestuft hat. Papiertaschentücher und Kleenex bekomme ich im Laden an der Ecke, der mittlerweile eigentlich eine Import-Export-Parfümerie ist, aber aus irgendwelchen Gründen auch Zigaretten verkauft.
    Zurück daheim, wuchte ich mich wieder vor den Fernseher, reiße eine Packung Mehl auf, nehme mir eine Handvoll und kaue lustlos darauf herum. Wenn dieser Beerdigungsstress vorbei ist, werde ich mich mal mit meinem Stammhirn unterhalten müssen über unsere leicht auseinandergehenden Ansichten über akzeptables Essen. Zumindest macht pures Mehl total schnell satt und verschafft einem auch einen prima Kloß im Hals. Im Moment ganz angebracht.
    Mensch, die arme Diana. Ich hab ja schon vor Jahren bei der Hochzeit damals gesagt: Charles und Diana, das wird nix, nää, nie im Leben, wie der Charles schon geguckt hat bei der Hochzeit, hmm, wusst ich gleich Bescheid, das wird nix, keine Woche hält das, keine Woche! Und grad mal nach 15 Jahren wars ja auch vorbei. Damals wollt ich noch zur Diana sagen, komm, Diana, lass den Charles, nimm mich, aber wollt se nich, nich mal geantwortet hattse. Nu wollt die Diana auch gerne Prinzessin werden, junge Mädchen eben, was willste machen, und ich war ja auch damals erst 14 Jahre alt, wer weiß, ob das überhaupt gut gegangen wär, aber so: war ja auch nich' gut, ne. Hättses schon besser bei mir gehabt, würden wir jetzt zusammensitzen, jeder 'ne Handvoll Mehl essen und schön die Beerdigung von Camilla gucken…»
    Nachbar Karl, der mittlerweile im Prinzip mit Handytaschen handelt, erweitert seine Produktpalette um Dianabildchen. Auf dem Potsdamer Platz werden die ersten Gebäude fertig. Alle sind sich einig: Das große Loch war schöner. Also zumindest interessanter. Vielleicht hätte man das so lassen sollen. Jochen hat mit zwei Gesellschaftern sein Haus jetzt gekauft, wandelt es in Büroflächen um und zieht ins Umland. Ich wette mit Freunden um sechs Kisten Bier, dass sich dieses komische Internet niemals durchsetzen wird.
    Vier Jahre später hat der Chef von Kabel 1 eine brillante Idee. Man muss «Kampf gegen die Mafia» einfach mal tagsüber ausstrahlen. So um die späte Mittagszeit, was soll da schon passieren… Und doch, ich hatte schon so ein komisches Gefühl, als ich mich am sehr späten Vormittag des 11. September 2001 vor den Fernseher setzte…
    Im Laden an der Ecke, der mittlerweile eigentlich ein Telefonladen für günstige Gespräche in alle Welt ist, aber aus irgendwelchen Gründen auch Zigaretten verkauft, treffe ich Karl, der zwischenzeitlich mit seinem Start-up-Unternehmen für Irgendwas ziemlich reich geworden war. Dann aber brach der Markt für Irgendwas zusammen. Wahrscheinlich, weil alle schon Irgendwas hatten oder weil es Irgendwas dann doch eben letztlich gar nicht gab. Er verlor alles und handelt jetzt wieder mit gefälschten Mauerstücken. Was Solides eben. Jochen konnte aus dem Aktiencrash gerade noch so viel Geld rüberretten, um sich ein Dorf in der Uckermark zu kaufen. Am fast fertigen Potsdamer Platz war die Trauer groß. Dieser 11. September
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