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Die schweigenden Kanäle

Die schweigenden Kanäle

Titel: Die schweigenden Kanäle
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Sie stand allein in der weiten Bahnhofshalle und wußte nicht, wie es weitergehen sollte.
    Um sie herum hasteten die Menschen zu den Ausgängen, rangierten die Lokomotiven, brüllten Gleisarbeiter und zogen Wolken von Ölgestank, heißen Bremsen, Staub und Ruß über sie hinweg. Sie wurde angestoßen, man trat gegen ihre Koffer, ein höflicher Mann – der einzige – sagte im Vorbeirennen: »Pardon Signorina –«, und dann war wieder Kreischen um sie, Quietschen, Rattern, Schreien, Pfeifen.
    Das ist also Venedig, dachte Ilse Wagner. Nicht anders als auf dem Bahnhof Zoo in Berlin. Es war enttäuschend. Mag sein, daß sich außerhalb dieser tosenden Bahnhofshalle der Zauber der Lagunen ausbreitete, und daß die erste Gondel mit dem geschnitzten, bunt bemalten Kiel die Romantik herbeizauberte … im Augenblick spürte sie nichts von der Stadt der Verliebten. Im Gegenteil, sie kam sich elend und verlassen vor, und ein wenig hilflos inmitten des lauten Lebens.
    Sie hatte ein enges, hellgraues Reisekostüm an, eine Umhängetasche baumelte von ihrer linken Schulter, zwei hellbraune Koffer standen neben ihr, ein Schirm lag über ihnen, denn auch in Venedig soll es Regen geben … und sie hatte sich gefreut, als sie aus dem Zug gestiegen war, denn es war ihre erste große Auslandsreise.
    Mit großen ratlosen Augen sah sie sich um. Ihre Hand fuhr durch die von der langen Reise zerdrückten braunen Locken und dann über das schmale, schöne Gesicht. Noch einmal drehte sie sich im Kreise und sah nach allen Richtungen in die weite Bahnhofshalle.
    »Das ist dumm!« sagte sie laut und setzte sich auf den größeren ihrer Koffer. Ein Bahnbeamter blieb stehen, überlegte kurz, ob er etwas fragen sollte, musterte das Mädchen und entschied sich dafür, weiterzugehen. Der Zug, mit dem Ilse Wagner gekommen war, rasselte aus der Halle. Der Bahnsteig war leer. Es war der letzte Zug, der hier an diesem Tage einfuhr.
    Ilse Wagner nahm einen Brief aus der Tasche ihres Kostüms und faltete ihn auseinander. Nein, es war kein Irrtum.
    »Sonnabend, 21.15 Uhr …« stand darin.
    Sie blickte auf die Bahnhofsuhr. 21.30 Uhr.
    »Na also«, sagte sie laut und steckte den Brief wieder ein. »Ist ja richtig –«
    Ein wenig verärgert, aber doch mit einem Gemisch von Ratlosigkeit und einer plötzlichen unbeschreibbaren Angst, verzog sie den Mund und wartete weiter. Sie beobachtete die Abfahrt eines Zuges nach Mailand auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig, lächelte über den temperamentvollen Abschied der Italiener, die sich umarmten, als gingen sie auf eine Weltreise, schüttelte den Kopf über das Einsteigen in den Zug, das mehr der Erstürmung einer Festung glich und blickte dann wieder auf die Bahnhofsuhr, unruhiger, unsicher und merklich ängstlicher.
    Niemand kam. Zwei Frauen begannen, den Bahnsteig zu fegen und kehrten um sie herum, Ilse Wagner vorwurfsvoll anschauend. Als es 22 Uhr war, sprang sie auf, fuhr sich mit beiden Händen durch die braunen Locken … aber zu mehr war sie nicht fähig. Was tun, dachte sie nur immer wieder. Mein Gott, was soll ich denn tun? Nun stehe ich in Venedig und weiß nicht, wohin ich gehen soll, was ich hier suchen soll, was das überhaupt alles zu bedeuten hat! Ob in einer Großstadt oder in einer Wüste ausgesetzt, das blieb sich jetzt fast gleich.
    Noch einmal las sie den Brief durch, der sie nach Venedig gerufen hatte. Dr. Berwaldt hatte ihn unterzeichnet, aber geschrieben hatte ihn ein anderer. Es war nicht der Briefstil Dr. Berwaldts. In Berlin, als sie ihn empfing, hatte sie sich keinerlei Gedanken darüber gemacht, sondern vor Freude singend ihre Koffer gepackt. Jetzt, allein in der Bahnhofshalle von Venedig, begann diese Frage plötzlich drückend zu werden: Wer hatte den Brief geschrieben, wer hatte die Fahrkarten geschickt?
    Als sie den Brief wieder in die Tasche knüllte, spürte sie, wie sich jemand hinter ihrem Rücken näherte, zögerte und dann vollends auf sie zutrat. Eine tiefe, wohltönende Stimme sagte:
    »Mylady … ist es wirklich wahr …«
    Der Herr sprach englisch. Ilse Wagner drehte sich schnell herum und sah einen großen, schwarzhaarigen Herrn in einem weißen Wollanzug vor sich stehen. Er verbeugte sich und lächelte sie an, als seien sie alte gute Bekannte. Ilse Wagner schüttelte traurig den Kopf. »Sie irren, Sir! Ich bin nicht Ihre Lady … übrigens ein alter, dummer Trick! Ich warte –«
    »Ah! Sie sind Deutsche?!« Der Herr lächelte stärker. Er verbeugte sich nochmals und
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