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FutureMatic

FutureMatic

Titel: FutureMatic
Autoren: William Gibson
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mittelalterlich wirkt, als hätte jemand aus Büromaterial den unteren Teil eines Ritters geformt.
    Die straffen Waden, die spitz zulaufenden Zehen, eine Eleganz, 26
    die geradezu nach Zierbändchen schreit. Über dem Papierband ist der Mann ein verschwommener Fleck, ein spastisches Gekrit-zel; Beton und Pech haben sein Wesen abgeschliffen. Er hat die Farbe des Pflasters angenommen, man kann nicht einmal mehr sagen, von welcher Rasse er ist.
    Das Taxi macht einen Satz nach vorn. Der Mann greift in seinen Lodenmantel, um das Messer an seinen Rippen zurecht-zurücken. Er ist Linkshänder, und er hat oft über diese subtilen Polaritäten nachgedacht.
    Das vor so langer Zeit ertrunkene Mädchen ist jetzt wieder zur Ruhe gekommen, ist in einem Strudel aus toffeefarbenem Haar und weniger schmerzhaften Erinnerungen dort hinab gespült worden, wo seine Jugend sich sanft in ihren gewohnten Gezeiten dreht, und nun geht es ihm besser.
    Die Vergangenheit ist vorbei, die Zukunft noch ungeformt.
    Es gibt nur den Moment, und nur dort möchte er sein.
    Und jetzt beugt er sich vor, um kurz an das getönte Sicher-heitsglas des Fahrers zu klopfen.
    Er bittet darum, zur Brücke gefahren zu werden.
    Das Taxi hält vor einem regenfleckigen Gewirr von Panzersperren aus Beton, riesigen, rostgeäderten, von den stilisierten Initialen vergessener Liebespaare übersäten Rhomboiden.
    Dieser Ort hat einen gewissen Stellenwert in der romantischen Mythologie der näheren Umgebung und ist der Gegenstand zahlloser populärer Balladen.
    »Verzeihung, Sir«, sagt der Taxifahrer durch etliche Schichten schützenden Kunststoffs und digitaler Übersetzung hindurch, »aber wünschen Sie wirklich, dass ich Sie hier absetze? Diese Gegend ist gefährlich. Ich werde nicht auf Sie warten können.« Es ist eine reine, gesetzlich vorgeschriebene Routinefrage, um einer etwaigen Klage vorzubeugen.
    »Danke. Mir droht keine Gefahr.« Sein Englisch ist ebenso förmlich wie das des Übersetzungsprogramms. Er hört ein melo-27
    disches Geplapper, als seine Worte in einer asiatischen Sprache wiedergegeben werden, die er nicht kennt. Die braunen Augen des Fahrers erwidern seinen Blick sanft und unbeteiligt durch Schutzbrille und Schild; multiple Schichten der Reflektion.
    Der Fahrer entriegelt ein magnetisches Schloss.
    Der Mann öffnet die Tür, steigt aus dem Taxi und streicht seinen Mantel glatt. Jenseits der Panzersperren ragen die zerklüfteten, steil herabstoßenden Terrassen über ihm empor, die flicken-artige Überbauung, von der die Brücke umhüllt ist. Seine Stimmung hebt sich teilweise: Es ist ein berühmter Anblick, eine Touristenpostkarte, der bildgewordene Inbegriff dieser Stadt.
    Er schließt die Tür, das Taxi fährt davon und lässt den süßen Vanillegeruch seiner Benzin-Alkohol-Abgase zurück.
    Er steht da und schaut zur Brücke hinauf, zum silbrig geworde-nen Sperrholz zahlloser winziger Behausungen. Der Anblick erinnert ihn an die Favelas von Rio, obwohl die einzelnen Elemente irgendwie eine andere Größe haben. Die Sekundärkonstruktion hat etwas Märchenhaftes, steht im Gegensatz zu den steilen Kur-ven und senkrechten Linien der Kernstruktur mit ihrer schwe-benden Poesie. Die einzelnen Unterkünfte – falls es sich wirklich um Unterkünfte handelt – sind sehr klein, weil Platz das Kostbar-ste überhaupt ist. Er erinnert sich an den Anblick der flackernden Fackeln, die den Eingang zur unteren Fahrbahn flankierten; heutzutage tragen die Bewohner die städtischen Maßnahmen zur Bekämpfung der Luftverschmutzung jedoch im Großen und Ganzen mit, wie er weiß.
    »Dancer?«
    Im Betonschatten birgt sie das kleine Fläschchen in der Hand.
    Eine wilde Grimasse, die das Geschäft erleichtern soll. Diese Droge bewirkt, dass sich das Zahnfleisch immer weiter zurückzieht, und verleiht den wenigen, die ihre anderen schlimmen Fol-gewirkungen überleben, ein charakteristisches, schreckliches Lächeln.
    Er antwortet mit den Augen; die Kraft seines Blicks durchstößt 28
    ihre Absicht wie Papier. Ein kurzes Aufflackern von Panik in ihrem Blick, dann ist sie fort.
    Toffeebraunes Haar wirbelt in den Tiefen.
    Er schaut auf die Spitzen seiner Schuhe hinab. Sie sind schwarz und heben sich sehr deutlich von dem Zufallsmosaik verdichteter Abfälle ab.
    Er steigt über eine leere Dose King Cobra und geht zwischen den nächsten Rhomboiden hindurch zur Brücke.
    Es sind keine freundlichen Schatten, durch die er sich hier bewegt; die Beine seiner engen Hose sind wie
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