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Das Beben

Titel: Das Beben
Autoren: Martin Mosebach
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1.
Unterirdische Verbindung
    Der Aufzug führte vom Parterre unmittelbar in den siebten Stock. Als die Schiebetür sich öffnete, umgab mich Licht aus großen Fensterscheiben, das von allen Seiten im Überfluß herabfiel. In dieser Raumlosigkeit hatte der Ankömmling das Gefühl, in den Himmel oder jedenfalls auf ein schwindelnd hohes, im Winde schwankendes Aluminiumgerüst hinaufgeschossen zu sein. Vor mir tat sich eine luftige Treppe auf, zwischen deren Stufen man auf ein tiefergelegenes Stockwerk und weitere Treppen hinabblickte. Hier oben schien die Welt nur aus Treppen zu bestehen. Die Stufen schwangen leicht, wenn man sie betrat, ein heller, metallischer Ton erklang. Die Wipfel der Kastanien lagen beträchtlich unter mir. In der Tiefe wogten grüne Wolken. Dies war eine Architektenwohnung, vor Jahrzehnten schon in der Absicht geschaffen, den Stil ihres Meisters besonders rein darzustellen, so kompromißlos, wie man nur bauen kann, wenn nicht die Bedenken eines Bauherren unablässig die schönsten Pläne durchkreuzen. Die Wohnung war als Museum für die Sammlung ihres Schöpfers konzipiert.
    »Ich brauche keine Wände für Bilder, ich brauche Lichträume um meine Objekte«, hatte er in jenem Aufsatz geschrieben, der seine Wohnung in einer Architekturzeitschrift vorstellte, und diese Objekte waren afrikanische Masken und Figuren in einer Fülle, als habe hier hoch über der Stadt ein ganzes schwarzes Volk angesiedelt werden sollen. Man kennt das gesprungene Holz solcher Plastik, die Stricke aus zerfaserndem Hanf, die Zähne, Muscheln, Knochen, die in sie hineingearbeitet sind. Diese Roheit und Bäuerlichkeit des Materials war nun von lauter Glas umgeben, stand auf Plexiglasstelen, schwebte an unsichtbaren Fäden von der Decke, lehnte sich an spiegelblank polierte Aluminiumwände. Die dicken Augenlider der Masken, die zu schwer waren, um sich für mehr als einen Sehschlitz zu heben, die Körperchen in der hockenden Haltung von verwachsenen Zwergen mit übergroßen Geschlechtsteilen, die von Narben geschmückten Frauenkörper mit Zitzenbrüsten waren in eine gleichsam ärztliche Sphäre von Wissen und Reinheit gehoben, fern vom Schweiß der nächtlichen Tänze, vom Wummern der Trommeln und den Ritualen der Beschwörung, für die sie geschaffen worden waren. Zwischen den afrikanischen Holzgebilden standen japanische jadegrüne Keramiken auf ihren Glaswürfeln.
    Dies war das Haus des Seniorpartners von Kross & Gran, dem größten und wirtschaftlich potentesten Architekturbüro, mit dem ich je zu tun hatte. Er hatte das industrialisierte Bauen noch als die Riesenaufgabe erlebt, die es war: Ganzen Kontinenten ein neues Gesicht zu geben. Sein Teil waren Flughäfen gewesen, Messehallen, neue Städte, Riesenschlangengeflechte von Autobahnen, kleinteiliger Planung hatte er sich selten widmen können, und um so wichtiger war dies private Gehäuse für ihn geworden, seine Teilhabe am Künstlertum der neuen Ideen. Ich hadere nicht mehr mit diesem Geschmack, er ist eine Generationenfrage. Wenn wir anfangen, etwas nicht mehr schön zu finden, heißt das nur, daß Menschen eines bestimmten Jahrgangs in die Minderheit geraten. Dort befand Herr Gran sich schon eine ganze Weile, aber obwohl von den Geschäften zurückgezogen, war er immer noch einflußreich und mächtig. Daß ich zum Tee im Hause Gran gebeten wurde, war eine hohe Ehre. Gran bekundete manchmal den Wunsch, mit gegenwärtig laufenden Projekten seiner Sozietät vertraut gemacht zu werden – er wolle »noch einmal ein bißchen Pulverdampf riechen«, nannte er das. Oft enthielten solche Einblicknahmen für ihn Enttäuschungen und Beunruhigungen, die seine Frau fürchtete, und sie versuchte, hinter den Kulissen, wie sie sagte, bei den Geschäftsführern um Behutsamkeit zu werben.
    »Er wird im April fünfundachtzig.«
    Frau Gran war viel jünger als ihr Mann, der nur junge Frauen mochte und schon dreimal geschieden war. Diese Vorliebe hatte ihn Geld gekostet, ihm aber auch den Ansporn gegeben, noch mehr zu verdienen, vor allem aber die Fähigkeit dazu.
    »Eine junge Ehefrau hat mich selbst immer um Jahrzehnte verjüngt«, sagte er noch jetzt gern, indem er mit seinem Gebiß spielte und die gebräunte, von Aderngeflecht überwölbte Hand fest auf den gleichfalls gebräunten Arm seiner Frau legte. Frau Gran jedoch war von dem Zusammenleben mit dem immer gebrechlicher werdenden Greis gezeichnet. Sie war erst sechzig, aber die Sorgen um seine Verdauung, auch das Gehen mit
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