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FutureMatic

FutureMatic

Titel: FutureMatic
Autoren: William Gibson
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gekommen ist; um die Zeit, als das Syndrom eingesetzt hatte, war alles ein bisschen neblig geworden. Eine Art Zustandsveränderung, eine globale Verschiebung in seiner Wahrnehmungsweise. Mangelhaftes Erinnerungs-vermögen. Nichts war haften geblieben.
    Jetzt fragt er sich, ob er nicht doch eine Abmachung mit dem Alten getroffen hat. Vielleicht hat er dafür – Miete oder was immer – bereits bezahlt. Vielleicht gibt der Alte ihm deshalb zu essen, vielleicht gibt er ihm deshalb Flaschen mit abgestandenem Mineralwasser und duldet den Pissegestank. Es könnte sein, aber er weiß es nicht genau.
    Es ist dunkel da drin, aber er sieht Farben, undeutliche, plötzlich aufschimmernde Kugeln, Streifen und Pünktchen, die sich bewegen. Als ob die Nachbilder der DatAmerica-Ströme jetzt von Dauer wären, tief in die Netzhaut eingebrannt. Kein Licht dringt vom Gang herein – er hat jedes noch so winzige Loch mit schwarzem Klebeband abgedeckt –, und die Halogenlampe des alten Mannes ist aus. Rydell nimmt an, dass er dort schläft, aber er hat ihn nie dabei gesehen, hat nie Geräusche gehört, die auf einen Übergang vom Modellbau zum Schlaf hindeuten könnten.
    Vielleicht schläft der Alte aufrecht auf seiner Matte, einen Gundam in der einen, den Pinsel in der anderen Hand.
    Manchmal hört er Musik aus den Kartons nebenan, aber nur ganz leise, als hätten die Nachbarn Kopfhörer auf.
    Er hat keine Ahnung, wie viele hier in diesem Gang wohnen.
    Der Platz scheint für sechs Personen zu reichen, aber er hat mehr gesehen, und es kann sein, dass sie hier schichtweise unterkrie-chen. Nach acht Monaten kann er noch nicht viel Japanisch, aber 22
    selbst wenn er die Sprache verstünde, wären diese Leute wahrscheinlich doch bloß alle verrückt und würden nur über Sachen reden, über die Verrückte eben so reden.
    Und natürlich würde ihn jeder, der ihn jetzt hier mit seinem Fieber, seinen Schlafsäcken, seinem Datenhelm, seinem mobilen Datenport und seiner Flasche mit abkühlender Pisse sehen könnte, ebenfalls für verrückt halten.
    Aber das ist er nicht. Er weiß, dass er nicht verrückt ist, trotz allem. Er hat jetzt das Syndrom, die Geschichte, die jede Testperson aus dem Waisenhaus in Gainesville erwischt hat, aber er ist nicht verrückt. Nur besessen. Und die Besessenheit hat ihre eigene Gestalt in seinem Kopf, ihre eigene Struktur, ihr eigenes Gewicht. Er kann sie von sich selbst unterscheiden, kann diffe-renzieren, und darum kehrt er zu ihr zurück, wann immer es nötig ist, und überprüft sie. Überwacht sie. Vergewissert sich, dass sie noch nicht mit ihm identisch ist. Sie erinnert ihn an einen schmerzenden Zahn oder an das Gefühl, als er einmal gegen seinen Willen verliebt war. Seine Zunge hat immer den Zahn gefunden, und er hat immer diesen Schmerz gefunden, diese Abwesenheit in der Gestalt der Geliebten.
    Aber das Syndrom war anders. Es war von ihm getrennt und hatte mit nichts und niemandem zu tun, dem auch nur sein Interesse galt. Als er spürte, wie es losging, hatte er wie selbstver-ständlich angenommen, dass es sich auf sie beziehen würde, auf Rei Toei, denn er war ihr nah, so nah, wie man jemandem sein konnte, der physisch nicht existierte. Sie hatten fast jeden Tag miteinander geredet, Laney und die Idoru.
    Und anfangs, überlegt er jetzt, hatte es sich vielleicht wirklich auf sie bezogen, aber dann war es, als würde er etwas durch die Datenströme zurückverfolgen, ohne darüber nachzudenken, so wie die Finger an einem Kleidungsstück einen Faden finden und anfangen, daran zu zupfen, das Gewebe aufzudröseln.
    Dabei war zum Vorschein gekommen, wie seiner Ansicht nach die Welt funktionierte. Und dahinter hatte er Harwood entdeckt, 23
    der berühmt war, für seinen Ruhm berühmt. Harwood, dem die Präsidentin ihre Wahl zu verdanken hatte, wie es hieß. Harwood, das PR-Genie, der Harwood Levine, die mächtigste PR-Firma der Welt, geerbt und in ganz neue Höhen, ganz neue Einfluss-sphären geführt hatte. Dem es jedoch irgendwie gelungen war, dem Mechanismus des Ruhms nicht zum Opfer zu fallen. Harwood, der vielleicht, nur vielleicht hinter allem steckte, es aber irgendwie schaffte, sich nie dabei erwischen zu lassen. Der es irgendwie fertig brachte, berühmt zu sein, ohne wichtig zu erscheinen, berühmt, ohne für etwas von zentraler Bedeutung zu sein. Er hatte eigentlich nie viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen, außer bei seiner Trennung von Maria Paz, und selbst da war der padanische Star die Topmeldung
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