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Zwölf tödliche Gaben 5: Fünf goldene Ringe

Zwölf tödliche Gaben 5: Fünf goldene Ringe

Titel: Zwölf tödliche Gaben 5: Fünf goldene Ringe
Autoren: Stuart MacBride
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Fünf goldene Ringe
    Es ist nie der richtige Zeitpunkt, einem verstorbenen Familienmitglied ins Gesicht zu blicken. Mr Unwin versteht das nur zu gut, denn er erlebt es jeden Tag.
    Mrs Riley ist der jüngste Gast in seiner Welt, der Welt der Mahagonisärge und der schweren Samtvorhänge, des gedämpften Lichts und der beruhigenden klassischen Musik. Und des milden Lavendeldufts, der alles überdecken soll, was die lieben Verstorbenen vielleicht ausströmen mögen.
    Mrs Riley weint und weint und weint, während Mr Riley sich alle Mühe gibt, seine hochschwangere Frau zu trösten. Sie ist außer sich vor Schmerz: Sie hat ihre Mutter verloren. Er ist stoisch: Er hat seine Schwiegermutter verloren, was ganz und gar nicht dasselbe ist. Nur die kleine Chloe, die ihre Großmutter verloren hat, wirkt vollkommen ungerührt. Sie sitzt neben dem Sarg auf dem Teppich, zupft die Blütenblätter von einer weißen Nelke ab und steckt sie sich in die Nase.
    Und die ganze Zeit steht Mr Unwin schweigend an der Tür des kleinen Raums, die Hände vor dem Körper verschränkt, und wartet, bis die Familie fertig ist. Geduld ist eine Tugend. Die Toten lassen sich nicht hetzen.
    Schließlich schluchzt Mrs Riley noch einmal auf, und ihr Mann führt sie und die kleine Chloe aus der Kapelle des Abschieds. »Danke«, sagt er und legt Mr Unwin die Hand auf die Schulter. »Sie haben wunderbare Arbeit geleistet. Sie sieht so …« – er blickt sich noch einmal zu dem offenen Sarg um – »so friedlich aus.«
    Mr Unwin nickt. »Es freut mich, dass wir Ihnen helfen konnten.« Und er bringt sie zum Ausgang.
    »Und?« Mr McNulty rückt seinen Stuhl näher an den Balsamierungstisch, als Mr Unwin in den Präparationsraum zurückkommt. »Sind sie weg?« Er fährt sich mit fleischigen Fingern über seinen glänzenden Schädel und streichelt seine Leberflecken.
    »Ja, Duncan, sie sind weg.« Mr Unwin zieht sein schwarzes Jackett aus und hängt es sorgfältig auf, bevor er sich wieder die schwere Gummischürze umbindet. »Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat, aber Mrs Riley war ganz verstört.«
    Mr McNulty zuckt mit den Achseln, dann nimmt er noch einen Schluck aus seiner Glenfiddich-Flasche. »Haben sie’s gesagt?«
    »›Ganz friedlich‹? Ja, sie haben es gesagt.« Sie sagen es immer.
    »Wirst du sie auch ›ganz friedlich‹ aussehen lassen?«, fragt er und deutet auf die dicke, aufgeschwemmte Frau, die nackt auf dem Tisch liegt. »Wirst du …« Noch ein Schluck Whisky. »Wirst du …«
    Mr Unwin faltet die Hände und steht reglos da, wie ein Grabstein. »Bist du sicher, dass du dabei sein willst, wenn ich sie präpariere?«
    Aber Mr McNulty gibt keine Antwort, starrt nur auf den bleichen, gelblichen Leichnam.
    »Duncan, bitte, ich werde mich gut um sie kümmern, das verspreche ich dir. Geh heim und ruh dich ein wenig aus.«
    »Nein. Nein, ich will bei ihr sein. Und helfen. Es ist das Mindeste, was ich tun kann …« Er wischt sich mit dem Ärmel die Nase. »Ich … O Gott …« Und dann bricht Mr McNulty in Tränen aus.
    Mr Unwin wartet, bis er sich ausgeweint hat, ehe er ihn zur Hintertür eskortiert. »Keine Sorge, sie ist in guten Händen.«
    Mr McNulty nickt, wischt sich die Augen und schleppt sich die Treppe hinauf zu seiner Wohnung.
    Mr Unwin schließt die Hintertür ab. Dann dreht er sich um und blickt lächelnd auf die Frau, die im Präparationsraum liegt und darauf wartet, dass er sein Wunderwerk vollbringt.
    Mrs McNulty war – und ist noch – eine kräftige Frau: hundertfünfzehn Kilo Fleisch, Knochen und Fett. All die Jahre haben sie und Mr McNulty in der kleinen Wohnung über dem Beerdigungsinstitut gewohnt – » UNWIN  &  M c NULTY , BESTATTUNGEN SEIT 1965 « – und es ist das allererste Mal, dass Mr Unwin sie nackt sieht.
    Er tätschelt ihren bleichen Bauch, die Haut kalt und fettig wie bei einem Hühnchen aus dem Kühlschrank. Aber Mrs McNulty ist kein junges Küken mehr. Nun ja, Mr McNulty ist ja auch nicht gerade das, was man eine gute Partie nennen würde: klein und pummelig, kahlköpfig und miesepetrig. Aber trotzdem ein guter Mann …
    Ein ganz besonderer Geruch begleitet den Vorgang des Einbalsamierens. Eine Mischung aus rohem Fleisch und Desinfektionsmittel, versetzt mit einem leisen Hauch von Verwesung. Man kann sich daran gewöhnen, aber Mr Unwin hat Jahre dafür gebraucht. Jetzt riecht es für ihn nach Zuhause. Nach gelungener Arbeit. Einer Chance, seine Talente einzusetzen; das zu tun, wozu er
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