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Für Nikita

Für Nikita

Titel: Für Nikita
Autoren: Polina Daschkowa
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möglichst rasch beheben wollen.
    »Na komm schon, mein Guter, komm schon«, murmelte er bei dem angestrengten Versuch, das Büfett von der Stelle zu bewegen.
     Polternd fiel etwas Schweres darin um. Es wäre besser gewesen, alles auszuräumen. Aber das hätte ihn eine ganze Stunde gekostet.
    »Nun mach schon, verdammt noch mal, beweg dich, du alter Holzklotz!« brüllte Nikita.
    Und der hölzerne Koloß gehorchte, rutschte brav ein paar Zentimeter übers Linoleum. Na also! Noch ein bißchen! Schließlich
     entstand zwischen dem Büfett und der Wand eine Lücke von etwa einem halben Meter – genug, um sich hineinzuzwängen und die
     vernagelte Tür freizulegen. Unter dem Büfett hatte sich das Linoleum vom Boden gelöst. Wenn er das mit einem Messer abtrennte
     und dann von draußen, von der Hintertreppe aus, an diesem Stück zog, konnte er das Büfett ein Stück zurückbewegen, zur Wand,
     so den Ausgang verschließen und ein paar Minuten Zeit gewinnen.
    Nikita fand im Werkzeugschrank ein altes Skalpell, scharf wie eine Rasierklinge, und ritzte das Linoleum an drei Seiten ein.
     Er versuchte daran zu ziehen – es ging. Aber er mußte es mit einem Ruck tun. Das erforderte übermenschliche Kraft. Die Kraft
     eines Menschen, der sehr am Leben hing.
    Draußen zwitscherten die ersten Vögel. Der Morgen graute. Nikitas Hemd war durchgeschwitzt und klebte widerlich am Körper.
     Gern hätte er noch einmal geduscht. Aber das war zu gefährlich. Garantiert würden sie genau in dem Moment auftauchen, wenn
     er unter der Dusche stand. Er würde sie nicht hören und es vielleicht nicht mehr schaffen.
    Leutnant Sokownin allerdings hatte es noch geschafft. Er war gerade im Bad und wusch sich, als die Tschekisten an die Tür
     hämmerten. Die Dusche funktionierte 1918 natürlich nicht mehr. Der Leutnant hatte sich mit eiskaltem Wasser aus einem Krug
     übergossen. Und sie nicht kommen gehört. Seine Nichte, die dreizehnjährige Anja, die später Nikitas Großmutter werden sollte,
     hatte sie im Flur aufgehalten, indem sie wie ein Wasserfall auf sie einredete. Schön laut natürlich, damit der Leutnant sie
     hörte.
    »Oh, ist das eine echte Mauser? Warten Sie, Herr Tschekist! Zeigen Sie doch mal, ich habe noch nie eine gesehen. Und die schießt
     wirklich?«
    Anja war engelsschön: glänzende Locken, riesige strahlendblaue Augen.
    »Möchten Sie vielleicht einen Tee, meine Herren Tschekisten? Wir haben ein bißchen echten Tee. Ich habe gerade den Samowar
     aufgesetzt. Wissen Sie was, wir haben sogar Bruchzucker. Warten Sie, dort ist nicht aufgeräumt, wo wollen Sie denn hin?«
    Der Leutnant konnte noch in seine Unterhosen schlüpfen, nahm die restlichen Sachen und seine Dienstpistole an sich, stieg
     auf den Wannenrand, öffnete das direkt unter der Decke gelegene Fenster zwischen Bad und Küche, zog sich hoch, kroch hinüber,
     sprang lautlos auf den Boden und schlüpfte durch die Dienstbotentür hinaus. In der nächsten Sekunde stürmten die Tschekisten
     in die Küche.
    »Wie hat er das geschafft, mit seinen ganzen Sachen unterm Arm, so schnell und lautlos?« fragte Nikita Großmutter Anja, wenn
     sie ihm die Geschichte zum hundertstenmal erzählte.
    »Ich weiß nicht. Er hing sehr am Leben«, antwortete die Großmutter.
    Seit Nikita zehn war, versuchte er immer wieder, die Geschicklichkeitsübung des Leutnant zu wiederholen. Er stellte eine Leiter
     unter das Fenster im Bad. Erst mit vierzehn schaffte er es, sich hochzuziehen, durchs Fenster zu schlüpfen und, die Augen
     zusammengekniffen, auf den Küchenboden zu springen. Seine Kinderfrau Nadja, die am Herd stand und Kartoffeln briet, schrie
     los wie am Spieß und bekreuzigte sich hastig mehrmals. Der unglückliche Sprung bescherte Nikita eine Zerrung und einen Bänderriß.
     Wäre Leutnant Sokownin so gesprungen, hätte man ihn eine halbe Stunde später erschossen.
    Nikita nahm eine Kneifzange aus dem Werkzeugkasten und begann, die zugenagelte Tür freizulegen. Die Nägel waren schon ziemlich
     rostig und regelrecht in die Wand eingewachsen.
     
    Als der Bänderriß verheilt war, hatte Nikita das Kunststück wiederholt, von Anfang bis Ende, sogar die Zeit gestoppt. Genau
     dreieinhalb Minuten. Das unangenehmste war der Sprung vom Dach auf das Dach des Nachbarhauses. In zwölf Metern Höhe. Zwischen
     den beiden Häusern mindestens ein halber Meter. Hauptsache, er sah nicht hinunter. Er mußte sich vorstellen, daß Männer in
     Lederjacken und mit Pistolen hinter ihm her
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