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Für Nikita

Für Nikita

Titel: Für Nikita
Autoren: Polina Daschkowa
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waren. Und daß er sehr am Leben hing.
    Nun war er nicht mehr vierzehn, sondern achtunddreißig und brauchte sich nichts vorzustellen. Es war alles echt.Männer in Lederjacken. Mit Maschinenpistolen. Und er hing sehr am Leben.
    Er schabte sich die Finger blutig, bis er endlich alle Nägel rausgezogen hatte. Endlich gab die Tür nach. Es roch nach altem
     Schimmel und Katzenurin. Der Hintereingang war 1927 vernagelt worden, nachdem der weltbekannte Opernbariton Nikolai Rakitin
     dem Drängen der sowjetischen Regierung nachgegeben hatte und mit seiner Familie aus der Emigration zurückgekehrt war. Der
     Bariton bekam seine eigene Wohnung in Moskau zurück. Die restlichen Gemeinschaftsmieter wurden rausgesetzt, die Zwischenwände
     wieder eingerissen. Nikitas Urgroßvater wollte russisch singen, auf der Bühne des Bolschoi-Theaters. Nikolai Rakitin hoffte,
     wie viele damals, die Bolschewiki würden sich nicht lange halten. Außerdem war sein Weltruhm im kalten, grauen Berlin ziemlich
     verblaßt. Später mußte er dann mit seinem vollen Bariton Parteilieder und Märsche singen, als Solostimme im Chor Texte intonieren
     wie: »Das Lied über Stalin, dem alle vertrauen, zu dem wir in Liebe und Freundschaft erglüht.«
    Auch vor »ihm höchstpersönlich« mußte er einmal singen, fast allein, in einem kleinen Büro, in Gegenwart einiger Vertrauter,
     die neben dem breitschultrigen, untersetzten Stalin beinahe wie Gespenster wirkten. Rakitin erzählte seiner Frau, seinem Sohn
     und seiner Tochter im Bad bei laufendem Wasser flüsternd von den häßlichen Pockennarben auf den grauen Wangen, von den gelben
     Augen, von der kurzbeinigen Gestalt in schlichter Militärjacke und weichen kaukasischen Stiefeln.
    Als Nikita sechzehn war, löcherte er Großmutter Anja immer wieder: »Warum ist er nicht dort geblieben? Warum? Wir würden heute
     ganz anders leben. Ich würde …«
    »Du?« Oma Anja lächelte. »Dich gäbe es dann gar nicht, Nikita.«
    »Warum?«
    »Weil dein Papa deine Mama nie getroffen hätte, er hätte eine andere Frau geheiratet, und sie hätten einen anderen Sohn gehabt.
     Oder eine Tochter.«
     
    Geschafft! Er nahm die Taschenlampe, stieg die Hintertreppe hinauf auf den Boden, kontrollierte den Ausgang aufs Dach, schreckte
     eine Spatzenschar auf und zuckte bei ihrem lauten Gezwitscher so zusammen, daß er das Gleichgewicht verlor. Seine Füße glitten
     über das feuchte Blech. Er konnte sich gerade noch an der wackligen, rostigen Abgrenzung festhalten. Sein Herz flatterte wie
     ein gefangener Vogel. Noch einmal spürte er hautnah, wie dicht ihm der Tod auf den Fersen saß.
    Das schweißfeuchte Hemd war nun eiskalt und teilweise an der Haut festgefroren wie Eisen an der Zunge, wenn man bei Frost
     daran leckt. Wieder in der Wohnung, bemerkte er bei einem Blick in den Spiegel Blut auf seiner Wange, und ihm fiel der Glassplitter
     ein. Er mußte ihn herausziehen und die Wunde desinfizieren, damit sie nicht eiterte. Er wusch sich gründlich die Hände. Die
     zerschrammten Finger gehorchten ihm kaum, der Splitter war glatt. Er mußte sich die Wange tief aufkratzen, aber er spürte
     trotzdem keinen Schmerz. Das Waschbecken war voller Blut.
    Sein Herz schlug noch immer heftig, und daran, daß ihm die Angst in die Kehle stieg, erkannte er: Gleich würden sie kommen.
     Er klebte notdürftig ein Pflaster auf die blutende Wunde und drehte den Wasserhahn zu.
    Der Computer gab beim Einschalten ein gedämpftes Piepsen von sich. Auf der Tastatur und der Maus blieben Blutspuren zurück.
     Nikitas Hände zitterten. Draußen war es inzwischen hell. Er speicherte die nötigen Dateien aufDiskette, dann löschte er ein Großteil des Textes. So. Nun sollten sie ruhig suchen.
    Sein Herz schlug wieder ruhiger, als wolle es dafür sorgen, daß er das sachte Kratzen im Türschloß hörte.
     
    Oxana Jegorowa besuchte die Gruppe »Gesunde Familie« ein Jahr lang. Ende Dezember 1994 fand der Unterricht nicht mehr in der
     Turnhalle statt, sondern im Kulturhaus. Er begann vormittags und dauerte bis zum späten Abend. Zu Hause sprach niemand mehr
     mit Jegorow. Oxana wechselte mit den Kindern nur kurze, unverständliche Worte, und sobald Jegorow auftauchte, verstummten
     alle drei.
    Oxana riß ihm schon lange nicht mehr die Kleider vom Leib und lachte auch nicht mehr wie eine Nixe. Sie schlief nun bei den
     Jungen im Zimmer auf dem Fußboden.
    Eines Tages erzählte Jegorow seinem Bordingenieur Gena Simonenko bei einer Flasche Wodka von
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