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Für Nikita

Für Nikita

Titel: Für Nikita
Autoren: Polina Daschkowa
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schien Fedja aufzuwachen. Nachts, wenn niemand etwas von ihm wollte. Er lag mit offenen Augen da, auf dem harten
     Bett ausgestreckt. Vor dem vergitterten Fenster tanzten Schatten von Zweigen. Weit hinter der Krankenhausmauer glitten vereinzelte
     verwaschene Lichter vorbei. In seiner Erinnerung schwebten quälend langsam undeutliche Silhouetten, leicht wie Scherenschnitte
     aus Zigarettenpapier. Leise, verschwommen, wie durch eine dicke Wasserschicht, klangen Stimmen.
    Er wußte nicht, daß die Ärzte das als Korsakow-Syndrom bezeichneten. Nichts, was um ihn herum hier und jetzt geschah, nahm
     er als real wahr. Die Wirklichkeit verschwand sofort aus seinem Bewußtsein, wurde daraus weggewaschen wie eine Zeichnung im
     Sand von der schwarzen Brandung. Die Zeit war für Fedja stehengeblieben. Sein Bewußtsein hing im leeren Raum. Die Leere war
     dumpf und schwer wie nasser Filz.
    Nur hin und wieder drang ein schwaches, entferntes Licht zu ihm durch. Fedja durchlebte einzelne Bruchstücke der Vergangenheit:
     die staubige Turnhalle, Menschen in weißen Laken. Dabei wurde ihm jedesmal übel, sein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen.
    Der Guru hatte erklärt, wie man sich richtig ernährte, damit die Chakren offenblieben, damit der Körper gereinigt, stärker
     und gesünder wurde und sich mit der Energie des Universums füllte. Oxana Jegorowa ernährte ihre Söhne mit Weizenkeimen und
     in heißem Wasser eingeweichtem Reis ohne Salz und Fett. Manchmal bekamen die Jungen eine Handvoll klebriger Rosinen oder getrockneter
     Aprikosen. Einmal in der Woche fasteten alle drei, tranken einen Tag lang nur einen speziellen Sud aus tibetischen Kräuternund abgekochtes Wasser. Einmal im Monat veranstaltete Oxana Fastenkuren über drei Tage. Der Guru lehrte sie, das Hungergefühl
     durch stundenlanges Meditieren und eiskalte Wassergüsse zu überwinden.
    »Kopfschmerzen während des reinigenden Fastens bedeuten, daß der Körper mit Schlacken vergiftet ist«, erklärte der Guru, und
     Oxana hielt aus und zwang auch die Jungen dazu, achtete streng darauf, daß sie nicht heimlich etwas aßen.
    Jeder Morgen begann mit Wassergüssen. Das Kind hockte sich in die Wanne, und Oxana goß ihm einen Eimer eiskaltes Wasser über
     den Kopf. Das öffnete schlagartig wichtige Chakren. Die erste Zeit schrien die Jungen kläglich, bekamen eine Gänsehaut und
     blaue Lippen. Dann gewöhnten sie sich daran.
    »Nichts erreicht man einfach so«, erklärte der Guru, »man darf seinem Körper nicht nachgeben. Wenn ihr nicht bei lebendigem
     Leib verfaulen wollt, müßt ihr lernen, euch zu überwinden.«
    »Verfaulen wir denn bei lebendigem Leib?« fragte der zwölfjährige Slawik. »Wir sind doch nicht krank oder alt.«
    Gegen überflüssige Fragen verordnete der Guru zusätzliches Fasten und Meditationen. Doch zuvor wurde der Junge einer Prozedur
     zur Öffnung wichtiger Chakren unterzogen. Der Guru gab ihm einen speziellen Kräutersud zu trinken, bettete ihn auf einen kleinen
     Teppich und ließ seine Hände um den Kopf des Liegenden kreisen, wobei er unverständliche Worte murmelte. Zuerst lag der Junge
     still und schien zu schlafen, doch bald begannen seine Glieder zu zucken, und dann wurde der ganze Körper von rhythmischen
     Krämpfen geschüttelt. Der Guru sagte, durch die heilsamen Vibrationen würden die Chakren geöffnet.
    Nach mehreren solchen Prozeduren stellte Slawik keine ungesunden Fragen mehr.
    Mit Fedja war es schwieriger. Der Guru bemerkte, daß der Junge sich vor dem kollektiven Meditieren drückte. Der Sinn des Ganzen
     bestand darin, sich in die Leere zu versenken, sich von seinem vergänglichen Leib und seiner sündigen Seele zu lösen. Vor
     allem: an nichts zu denken. Aber das funktionierte bei Fedja nicht.
    »Eure Gedanken, das sind auch Schlacken. Von materiellen Schlacken reinigt ihr euch durch Fasten, von geistigen Schlacken
     durch Meditation.«
    Wenn die ganze Gruppe im Kreis saß, sich langsam wiegte und das eintönige »Omm« wiederholte, bemühte sich Fedja aus ganzer
     Kraft um Konzentration. Doch der klägliche Laut, den er zustande brachte, klang wie das Winseln eines geprügelten Welpen.
    Vor dem vergitterten Fenster tanzten Schneeflocken. Ihm knurrte der Magen, er hatte Hunger. Er hätte gern eine große saftige
     Bockwurst gegessen, Bratkartoffeln, eine knackige, picklige Salzgurke. Eine Tafel Schokolade! Die Schneehäufchen auf den Fenstergittern
     erinnerten ihn an Eiskrem.
    Fedja brummte weiter, dachte
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