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Für Nikita

Für Nikita

Titel: Für Nikita
Autoren: Polina Daschkowa
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Mama war gerade
     achtzehn. Er war natürlich ein guter Mensch, hat sich um uns gekümmert. Mama hat es an nichts gefehlt, ich ging in die beste
     Krippe, in den besten Kindergarten. Aber die richtigen Nomenklatura-Kinder kannten natürlich weder Krippenoch Kindergarten, die wuchsen zu Hause auf, mit Kindermädchen und Gouvernanten. Im Kindergarten war ich zusammen mit den
     Kindern der Gärtner, Chauffeure, Zimmermädchen und Leibwächter, obwohl ich mit denen eben nicht auf einer Stufe stand. In
     die Schule kam ich schon als der illegitime Sohn des Königs der Region. Von Geburt ein Prinz, aber qua Schicksal Gesinde.
     Da hast du mal ein echtes Lebensdrama, Schriftsteller Godunow! Das ist der Widerspruch, den ich in mir und bei anderen vom
     zartesten Alter an überwinden mußte.«
    »Wirklich hochinteressant«, sagte Nikita langsam, »aber wie hast du denn diesen Widerspruch überwunden?«
    »Du willst Beispiele? Na schön, laß mich nachdenken. Ja, in der vierten Klasse haben wir Jungs mal auf dem Schulhof geraucht,
     da kam die Direktorin vorbei. Die Schule war die beste in der Region, nur für Privilegierte. Fast alle Kinder wurden im schwarzen
     Wolga gebracht und abgeholt. Am Tor stand eine Wache. Zur Turnhalle gehörte ein Schwimmbecken mit Glaskuppel. Zum Frühstück
     gab’s Kaviar und Ananas. Aber es herrschte eine eiserne Disziplin, beinahe militärisch. Also, die Direktorin kommt auf uns
     zu, ein Dragonerweib, ein General im Rock. Wir konnten unsere Papirossy alle rechtzeitig ausdrücken, nur einer, ich weiß nicht
     mehr, wie er hieß, der hat sich die brennende Kippe vor Schreck in die Gesäßtasche gesteckt. Er hielt es nur eine Minute aus,
     dann hat er gebrüllt wie am Spieß. Danach haben wir gewettet, ob man solchen Schmerz aushalten kann, ohne zu schreien. Ich
     kam auf die Idee, Kippen auf der Hand auszudrücken. Wer am meisten aushält.«
    »Und – wer hat gewonnen?«
    »Ich natürlich.«
    Nikita erinnerte sich, wie ihm sein Gesprächspartner bei diesen Worten seine linke Hand gezeigt hatte. Auf demHandrücken prangten fünf kreisrunde Narben, etwa so groß wie alte Kopekenstücke.
    »Ja, was könnte ich dir noch erzählen?« Er überlegte lange und murmelte schließlich: »Vielleicht die Geschichte mit der alten
     Goldmine.« Er stockte erschrocken. »Nein, das ist uninteressant.«
    »Wieso? Eine Goldmine, das ist sehr interessant. Ich wollte dich gerade fragen, wie du dein Startkapital zusammengekriegt
     hast. Politik läuft doch nicht ohne Geld. Um diese Frage werden wir in dem Buch nicht rumkommen.«
    »Stimmt, da kommen wir nicht drum herum. Geld, das ist immer interessant. Aber noch reden wir über meine Kindheit. Über Mama
     und Papa.«
    »Und die Goldmine?«
    »Ach was, das ist irgendwie zu romantisch. Klingt so nach Jack London. Außerdem hat es mit meinem Startkapital nicht das geringste
     zu tun.«
    »Na, dann kannst du es doch erst recht erzählen. Was ich daraus mache, ist meine Sache.«
    Deutlich sah Nikita das angespannte, konzentrierte Gesicht vor sich. Offenkundig hatte er gewichtige Gründe, sich für seine
     Schwatzhaftigkeit zu tadeln.
    Damals, vor anderthalb Monaten, hatte Nikita noch nicht geahnt, wie gewichtig diese Gründe waren.
     
    Eine Stunde später nahm er ein Taxi und fuhr zu Tanja. Er blieb eine knappe halbe Stunde bei ihr, trank eine Tasse starken
     Kaffee. Zum Flughafen brachte ihn Tanja mit ihrem alten Moskwitsch.
    »Das Hotel ist bestimmt miserabel, unten dröhnt jeden Abend eine Diskothek, oder es ist gar ein Freudenhaus«, sagte sie und
     küßte ihn zum Abschied.
    »Der Strand ist weit weg, und das Meer verdreckt«, ergänzte er.
    »Aber was kümmert dich das?« Sie lächelte und bekreuzigte ihn rasch.
    Es kümmerte ihn tatsächlich nicht, denn er flog nicht in die Türkei, sondern nach Westsibirien. Er wußte nicht, ob er richtig
     handelte, er zweifelte, ob diese aufwendige Reise einen Sinn haben würde. Aber eines wußte er genau: Wenn er recht hatte und
     nicht umsonst fuhr, dann war die Sache für ihn lebensgefährlich.

Zweites Kapitel
    Die Schüsse waren kaum zu hören. Dabei hätten sie doch die Moskauer Mainacht zerreißen müssen wie Donnerschläge. Aber es machte
     nur ein paarmal trocken »plopp«. Glas zersplitterte, eine Alarmanlage heulte los, dann eine Milizsirene.
    Eine Schaufensterpuppe in einem Adidas-Sportwarengeschäft schwankte und fiel um.
    Der Streifenwagen der Miliz hängte sich an den schwarzen Jeep. Normalerweise hätte der
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