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Für Nikita

Für Nikita

Titel: Für Nikita
Autoren: Polina Daschkowa
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Stirn.
    »Fedja, mein Sohn!« rief Jegorow leise.
    Genau in diesem Augenblick fügten sich die kindlichen Beine endlich zum erstrebten Kringel.
    »Geschafft!« rief der Junge freudig und schloß sich dem Chor an.
    In der Mitte des Kreises saß ein älterer, kahlgeschorener Asiat im Lendenschurz. Auf der unbehaarten nackten Brust prangte
     ein schwarzes Pentagramm, ein fünfzackiger Stern in einem Kreis. Die schmalen Augen starrten Jegorow an; der spürte, wie dieser
     Blick ihm die Haut versengte, mißtraute dieser Wahrnehmung allerdings – das gab es doch nicht, daß ein Blick aus zehn Metern
     Entfernung brannte wie starke Säure!
    »Was soll dieser faule Zauber?« fragte Jegorow laut und tat einen entschlossenen Schritt auf den muhenden Kreis zu, um seine
     Frau und seine Kinder herauszuholen.
    Der Asiat sagte kein Wort, gab aber offenbar jemandem ein Zeichen, denn augenblicklich wurden Jegorow mit geübtem Griff die
     Arme zusammengepreßt und auf den Rücken gedreht, so daß er sich nicht mehr rühren konnte. Jegorow versuchte sich loszureißen.
    »Was soll das? Lassen Sie mich los, sofort!«
    Damals, vor fünf Jahren, war Jegorow noch sehr stark gewesen. Einsneunzig groß, neunzig Kilo schwer, kein Gramm Fett, alles
     schiere Muskeln. Doch die Person hinter ihm war wesentlich stärker.
    »Oxana! Slawik! Fedja!« Jegorow rief die Namen seiner Frau und seiner Söhne, aber sie hörten ihn nicht. Sein Schreien ging
     im vielstimmigen Brummen der zwei Dutzend Leute unter. Jegorow wollte sich losreißen. Erst glaubte er, er habe es mit zwei
     Männern zu tun – einer hielt ihn fest, und der andere versetzte ihm einen Handkantenschlag ins Genick. Einen geübten, professionellen
     Schlag. Jegorow verlor vor Schmerz beinahe das Bewußtsein, riß sich mit aller Kraft los und sah endlich, wer ihn festhielt
     und schlug: Ein Riesenweib in schwarzen Jeans und schwarzemRollkragenpullover. Sie roch unerträglich nach Schweiß. Ihr Gesicht konnte er nicht erkennen, lediglich ihren Ohrring: ein
     Kreuz. Ein ganz normales orthodoxes Kreuz, bloß verkehrt herum.
    Nach ihrem dritten Schlag war Jegorow nur noch ein zusammengekrümmter Klumpen Schmerz. Vor seinen Augen tanzten Sterne, seine
     Trommelfelle hämmerten laut. Dann wurde es dunkel.
    Als er die Augen öffnete, fand er sich auf einer Bank auf dem Schulhof sitzend wieder, unfähig, sich zu rühren. Sein blauer
     Fliegermantel war bis obenhin zugeknöpft, der weiße Uniformschal ordentlich umgebunden, auf dem Kopf saß seine Mütze. Er wußte
     genau, daß er beim Betreten der Turnhalle den Mantel aufgeknöpft und die Mütze abgenommen hatte.
    Jegorow hob den Arm und hatte das Gefühl, daß er mindestens ein Pud wog. Er rieb sich mit einer Handvoll beißendem, schmutzigem
     Schnee das Gesicht ab und knirschte vor Schmerz mit den Zähnen. Sein Gesicht brannte, als habe man ihm die Haut mit einer
     Klinge abgeschabt. Die Wut half ihm, endgültig zu sich zu kommen und aufzustehen.
    Die Schule war verschlossen. Die vergitterten Fenster der im Souterrain liegenden Turnhalle waren dunkel. Er umrundete das
     gesamte Gebäude. Totenstille. Keine Menschenseele. Er sah auf die Uhr: Es war Mitternacht.
     
    Seine Frau und die Kinder lagen zu Hause im Bett und schliefen. Er blickte in den Spiegel und sah, daß sein Gesicht rot und
     entzündet war. Doch am Hals, unterm Ohr, fand er nicht die geringste Spur, nicht den kleinsten blauen Fleck.
    »Ach, Iwan, du bist schon zurück?« fragte seine Oxanaverschlafen, als er sich aufs Bett setzte und ihr übers Haar strich.
    »Wo wart ihr heute abend?«
    »Beim Unterricht, in der Gruppe. Das weißt du doch.«
    »Ich war da. Ihr habt mich nicht gehört und nicht gesehen. Ihr wart alle wie blind und taub. Ihr wart wie tot. Oxana, wach
     endlich auf! Ich wurde zusammengeschlagen und rausgeworfen wie ein räudiger Hund.«
    »Was redest du denn da, mein Lieber, mein Guter, mein Geliebter!« Ohne die Augen zu öffnen, lachte sie ein fremdes, tiefes
     Nixenlachen, umschlang seinen Hals, zog ihn zu sich herunter, verschloß ihm mit ihren weichen, warmen Lippen den Mund und
     knöpfte ihm geschickt das Hemd auf.
    Jegorow lebte seit fünfzehn Jahren mit seiner Frau zusammen, er kannte an ihr jede Bewegung, den Klang ihrer Stimme, den Rhythmus
     ihres Atems – doch die Frau, die ihn jetzt auf den Mund küßte und ihn auszog, war eine andere, eine ihm völlig unbekannte
     Oxana.
    Seine stille, schüchterne Frau, die selbst in den intimsten Augenblicken
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