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Für Nikita

Für Nikita

Titel: Für Nikita
Autoren: Polina Daschkowa
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vor allzu stürmischen Gefühlsäußerungen zurückscheute,
     aus Angst, die Kinder zu wecken, die immer fürchtete, das Bett könnte quietschen, wurde auf einmal zur unersättlichen, schamlosen,
     erfahrenen Nymphomanin.
    Wo, wann und bei wem hatte sie das gelernt? Alles an ihr war anders: ihre Hände, ihr Körper, ihre Lippen. Sogar ihr Duft.
     Anstelle des gewohnten Apfelshampoos und leichten Eau de Cologne strömte sie nun einen schweren, würzigen Geruch nach Rosenöl
     oder Muskat aus.
    »In mir erwachen Kräfte, die früher geschlummert haben«, erklärte sie ihm am nächsten Morgen gelassen. »Hat es dir etwa nicht
     gefallen?«
    »Wer hat dir das beigebracht?« erkundigte sich Jegorow finster.
    Sie antwortete mit ihrem fremden, tiefen, dumpfen Lachen.
    »So etwas zu lernen braucht Jahre. Nein, nicht Jahre – Jahrtausende. Das genetische Gedächtnis. Eine besondere Energetik,
     die sich nur bei Auserwählten entfaltet, bei höheren Wesen. In mir ist der strahlende, freie Geist der großen Maya erwacht.«
    »Maya? Was redest du da, Oxana?«
    »Maya ist die große Shakti, die Mutter der Schöpfung. In ihrem Bauch ruht das Urei, welches das gesamte Universum umfaßt und
     damit den Geist des großen Vaters. Durch den Tanz des Lebens, durch seine Vibration erfüllt Mayas Energie die imaginäre Materie
     …«
    »Ihr geht dort nicht mehr hin. Weder du noch die Kinder.«
    »Sag bloß, dir hat es heute nacht nicht gefallen?« Sie schlug ihren Nylonsteppmantel auf, unter dem sie nackt war, und kam
     auf ihn zu. Ihr Atem ging schnell und heiser, und ihr Lächeln kam Jegorow aus der Nähe vor wie das Grinsen einer Toten.
     
    Fünf Jahre war das her, doch er erinnerte sich noch immer ganz deutlich an jene Dezembernacht. Damals hatte alles angefangen.
     Für ihn jedenfalls. Für seine Frau und seine Kinder bereits früher.
    Oxana und Slawik lebten vermutlich nicht mehr. Fedja hatte einen klinischen Tod hinter sich und alle Formen psychiatrischer
     Behandlung, von Psychopharmaka und Elektroschocks bis zu Hypnose. Die Ärzte konnten nichts versprechen, runzelten vielsagend
     die Stirn, wollten sich auf keine endgültige Diagnose festlegen. Jegorow hörte nicht mehr auf sie. Er vertraute ihnen nicht
     mehr. Er ließ Fedjanur deshalb im Krankenhaus, weil er bislang keine Möglichkeit hatte, den Jungen zu Hause zu pflegen.
    »Fedja, erinnerst du dich an Sinedolsk? Wir sind mal hingeflogen, als du noch ganz klein warst. Erinnerst du dich an Oma?«
    Der Junge zuckte mit dem Kopf, und Jegorow glaubte einen Augenblick, er habe genickt.
    »Du warst gerade drei geworden. Wir haben dort deinen Geburtstag gefeiert, zusammen mit Oma. Sie hat dir einen Spielzeuglaster
     geschenkt, der war so groß, daß du dich selber reinsetzen konntest.«
    Fedja erstarrte kurz, und wieder hatte Jegorow den Eindruck, daß sein Sohn ihn hörte und verstand.
    »Hab noch ein bißchen Geduld, mein Sohn, bald wird alles gut.« Während er das sagte, versuchte er, die verschlungenen Beine
     des Jungen zu lösen. »Ich hole dich hier raus, wir ziehen ganz weit weg, irgendwohin, wo die Luft sauber ist, wo es Kiefernwälder
     gibt und einen Fluß mit klarem Wasser. Dann wird es dir besser gehen.«
    Jedesmal murmelte Jegorow dieselben Worte von sauberer Luft und klarem Wasser, jedesmal versuchte er, die Beine des Jungen
     aufzuflechten, die verkrampften Muskeln zu lockern, und fürchtete, ihm weh zu tun, obgleich er wußte, daß Fedja keinen Schmerz
     spürte.
    »Nicht doch, quälen Sie sich nicht«, hörte er hinter sich den Doktor sagen und zuckte zusammen. Der Arzt war ganz leise hereingekommen
     und beobachtete schon seit einigen Minuten schweigend Jegorows vergebliche Versuche.
    »Da hilft nur eine Spritze, sie löst den Krampf. Die Schwester übernimmt das gleich. Aber Sie müssen jetzt gehen. Alles Gute.«
    Jegorow verließ das Krankenhaus guten Mutes. Seit einigenTagen war ihm wesentlich leichter ums Herz. Trotz des skeptischen Lächelns des behandelnden Arztes, trotz der leeren Augen
     seines Sohnes hegte er nun eine hartnäckige Hoffnung.
     
    Das Klingeln kündete ein Ferngespräch an. Nikita Rakitin stieg ohne Hast aus der Wanne, zog den Bademantel über und ging zum
     Telefon, nahm aber nicht gleich ab. Er hatte nicht die geringste Lust dazu.
    »Sei gegrüßt, Schriftsteller Viktor Godunow. Warum nimmst du nicht ab?« tönte ein befehlsgewohnter dumpfer Bariton.
    »Ich war in der Badewanne.«
    »Ach so! Wie geht die Arbeit
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