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Für Nikita

Für Nikita

Titel: Für Nikita
Autoren: Polina Daschkowa
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Kreis Männer, Frauen und Jugendliche in weißen Karateanzügen im Lotossitz.
     In der Mitte thronte ein riesiges, breitschultriges Geschöpf mit kleinem, kahlgeschorenem Kopf. Im fleischigen Ohr schaukelte
     ein Ohrring, ein ganz gewöhnliches orthodoxes Kreuz, nur verkehrt herum.
    »Ausatmen«, kommandierte das Geschöpf mit tiefer Stimme, »beim Ausatmen wiederholen wir laut, mit geschlossenen Augen: Ich
     werde alles opfern, es bereitet mir Freude, alles opfern zu dürfen, ich empfinde Glück, wenn ich alles opfere.«
    Zwei Dutzend Stimmen – Männer, Frauen und Kinder – wiederholten diese Sätze mehrere Male, allmählich gingen die Worte über
     in ein tiefes, aus dem Bauch kommendes »Omm«.
    Mit dem eintönigen »Omm«, dem uralten Symbol für die Leere und den ewigen Tod, haben die Menschen schon vor dreitausend Jahren
     die schrecklichsten, bösesten Kräfte des Universums beschworen. Ein schauriges magisches Symbol, geheimnisvoll und verlockend.
    Felix Viktjuk beobachtete durch die halboffene Tür die Gesichter und fand, daß Magda, Shanlis einstige Schülerin und Leibwächterin,
     gar nicht so dumm war, wie er immer geglaubt hatte. Schon in ein paar Wochen könnte man allmählich technische Hilfsmittel
     anwenden: Ultraschall, Infraschall, Ultrahochfrequenzbestrahlung. In einem halben Jahr wäre die erste Brigade einsatzbereit,
     zunächst zur Probe – die subtile, komplizierte Arbeit eines Killers war etwas anderes, als in der Taiga unter strenger Bewachung
     Flußsand zu sieben.
    Diese ersten würden natürlich nur für den einmaligen Gebrauch taugen. Aber die Auswahl für die nächste Gruppe lief bereits;
     sie konnten sich nicht retten vor Interessenten, die darauf brannten, mühelos alle ihre unlösbaren Probleme zu lösen, sich
     von seelischen und körperlichen Schmerzen zu befreien, auserwählt zu sein, Ruhe und absolutes Glück zu finden und vor allem
     – nicht mehr zu denken. An nichts zu denken.
    Viktjuk schloß leise die Tür, durchquerte rasch das schicke Foyer des Gesundheitszentrums und nickte dem uniformierten Wachmann
     freundlich zu. Lautlos schwang die Glastür vor ihm auf.
    Draußen war es warm, der Regen hatte aufgehört. Viktjuk stieg in seinen bescheidenen VW und startete. Der Wagenrollte durch die stille grüne Straße. Viktjuk wollte in seinem Lieblingsrestaurant »Praga« essen. Er überlegte, daß er sich
     heute am besten etwas Leichtes bestellen sollte, Fisch und viel Gemüse. Er mußte auf sein Gewicht achten.
    Den Miliz-Mercedes, der ihm bis zum Arbatplatz folgte, beachtete er nicht.
    »Was ist, Hauptmann, nehmen wir ihn gleich fest?« fragte Wanja Kaschin.
    »Soll er ruhig ein letztes Mal schön essen. Wir nehmen ihn fest, wenn er rauskommt«, antwortete Hauptmann Leontjew.

Epilog
    »Sie sind heute aber ziemlich viele.« Kopfschüttelnd sah der Arzt die drei Besucher an. »Wollen Sie etwa alle rein zu ihm?«
    »Ja, das wollen wir.« Jegorow nickte und griff gewohnheitsmäßig nach seiner Brieftasche.
    »Lassen Sie nur.« Der Doktor lächelte und schob den Geldschein beiseite. »Die Entlassungspapiere sind schon fertig. Sie können
     ihn am Montag abholen.«
    »Nicht heute?« fragte Jegorow heiser.
    »Heute ist Sonnabend, am Wochenende entlassen wir nicht. Übrigens hat er heute der Pflegerin ein Gedicht aufgesagt. Und gesagt,
     daß er Bratkartoffeln möchte. Aber wo sollen wir die hernehmen, frage ich Sie? Wir haben nur Reis, Makkaroni und Kartoffelbrei.«
    »Und was noch? Was hat er noch gesagt?« flüsterte Jegorow.
    »Na, gehen Sie rein zu ihm. Die Pflegerin sitzt gerade bei ihm, die kann Ihnen alles genau berichten. Sagen Sie, sind Sie
     nicht Viktor Godunow?«
    Nikita nickte. »Der bin ich.«
    »Entschuldigen Sie bitte, aber ich habe Ihren Nachruf gelesen. In der Zeitung stand, Sie wären umgekommen, bei einem Brand.
     Also sind Sie es nun oder nicht?«
    »Er ist es.« Nika lächelte. »Da können Sie ganz sicher sein, er ist es.«
     
    Fedja schlief, zusammengerollt, eine Hand unter der Wange. Sein Gesicht war rosig, das Haar zu einem dichtenhellen Igel nachgewachsen. Sein Atem ging ruhig und gleichmäßig.
    Auf dem Bett saß die Krankenpflegerin, eine notdürftig mit einem Pflaster zusammengeklebte Brille auf der Nase. Mit einer
     Hand streichelte sie Fedjas Kopf, in der anderen hielt sie eine kleine, zerfledderte Bibel, aus der sie leise, fast flüsternd,
     vorlas: »Der Wind geht nach Süden und dreht sich nach Norden und wieder herum an den Ort, wo er
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