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Für Nikita

Für Nikita

Titel: Für Nikita
Autoren: Polina Daschkowa
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aber dabei, wie schön es wäre, jetzt hinauszugehen auf die Straße, an die frische Luft, wo man
     die anheimelnd gelb leuchtenden Fenster in den Häusern sah. Hier in der Turnhalle war es stickig und staubig, es roch nach
     Schweiß. Der Guru schritt den Kreis ab und hielt jedem seine Hände über den Kopf – um die Aura zu kontrollieren. Über Fedjas
     Kopf verharrten seine Hände lange. Fedja hatte das Gefühl, als würde sein Kopf von einem engen, heißen Ring zusammengepreßt.
    Die Welt war in zwei ungleiche Teile zerfallen. Im einen gab es stillen abendlichen Schneefall und warmes Licht in den Fenstern
     des Nachbarhauses. Die Menschen hinter den Fenstern aßen Abendbrot, sahen fern, unterhielten sich.Die Kinder machten Hausaufgaben. Dieses Leben war falsch. Der Guru sagte, alle diese Menschen seien Tote.
    Slawik und er gingen seit einem halben Jahr nicht mehr in die Schule. Mama hatte am Telefon zur Direktorin gesagt: »Die Jungen
     gehen jetzt in eine Privatschule.«
    In Wirklichkeit war der einzige Unterricht, den sie besuchten, der beim Guru. Der Guru sagte, Mathematik, Sprache, Literatur
     und Geographie brauchten sie nicht. Was sollten sie mit toten Wissenschaften, wenn sie der höchsten Wahrheit teilhaftig wurden
     und die kosmische Energie einsogen?
    Doch Fedja hatte gern gelesen, geschrieben und gerechnet.
    Der Guru befahl Mama, Fedja um acht Uhr früh zu ihm zu bringen, allein, ohne Slawik. Er empfing sie nicht in der Turnhalle,
     sondern in einem kleinen Raum, in dem es aussah wie beim Arzt. Neben der mit einem Laken bedeckten Kunststoffbank stand ein
     merkwürdiges Gerät, wie ein Radio. In der Vorderseite steckten Drähte, und an diesen Drähten hantierte ein unbekannter Mann
     im weißen Kittel, der vor dem Gerät hockte. Der Guru tätschelte Fedja die Wange und reichte ihm ein Glas mit einer trüben
     dunkelbraunen Flüssigkeit. Bei dem bekannten bitteren Geschmack verzog Fedja unwillkürlich das Gesicht. Der Kräutersud war
     diesmal besonders stark. Ihm traten sogar Tränen in die Augen. Der Guru befahl ihm, sich auszuziehen und auf die Bank zu legen.
     Dann wurden ihm Schläfen und Fußsohlen mit etwas Klebrigem bestrichen und mit Pflaster kalte, spitze Drähte auf die Haut geklebt.
    »Mach die Augen zu«, befahl der Guru.
    »Bist du sicher, daß er das aushält?« vernahm Fedja durch das anschwellende Rauschen in seinen Ohren die Stimme des anderen
     Mannes. »Es ist eine Erwachsenendosis.«
    »Der hält das aus«, beruhigte ihn der Guru, »wir dürfen ihn sowieso auf keinen Fall hierlassen.«
    Natürlich nicht, dachte Fedja, bald kommt der Weltuntergang, und dann sterben alle. Und wenn ich hierbleibe, dann sterbe ich
     auch. Ich muß auf den Guru hören. Er bringt uns zum goldenen Fluß. Der Guru kennt einen Ort auf der Welt, wo man sich retten
     kann. Gelbe Schlucht. Weit weg in Sibirien, tief in der Taiga, liegt die Sonnenstadt, der Ort, wo wir uns retten werden …
    »Gelbe Schlucht, die Sonnenstadt«, flüsterte Fedja mit trockenen Lippen, steif ausgestreckt auf dem harten Bett in der Kinderpsychiatrie.
    Das waren seine ersten Worte nach vier Jahren Schweigen.

Drittes Kapitel
    Zu Hause schaltete Nikita mechanisch den Wasserkocher ein, dann machte er sich daran, das schwere Eichenbüfett in der Küche
     von der Stelle zu bewegen. Er fürchtete, das allein nicht zu bewältigen. Vor zehn Jahren, als die Wohnung renoviert wurde,
     hatten drei kräftige Möbelträger es gerückt und dabei furchtbar geflucht auf die solide Eiche.
    »Wenn dir dein Leben lieb ist, schaffst du es«, sagte er zu sich und lehnte sich gegen die Eichenflanke.
    Hinter dem Büfett lag die Tür zum Dienstboteneingang, der 1918 Nikitas Urgroßonkel, Leutnant Sergej Sokownin, das Leben gerettet
     hatte. Durch ihn entkam der Leutnant rechtzeitig den Tschekisten, die ihn verhaften wollten. Später, unter den Sowjets, erzählte
     Großmutter Anja, wurde der Vordereingang vernagelt, und alle benutzten den Dienstboteneingang. Die Wohnung der Rakitins wurde
     in winzige Zimmer aufgeteilt und zur Gemeinschaftswohnunggemacht. Leutnant Sokownin aber überlebte, floh per Schiff nach Konstantinopel und von dort nach Amerika, heiratete, bekam
     drei Töchter und starb 1944 als Oberst der US-Army, in einem Pariser Vorort von einer deutschen Mine in die Luft gesprengt.
    Nikita trat einen Schritt zurück, verschnaufte und betrachtete das Büfett von allen Seiten. Er hatte wenig Zeit. Die Profis
     im Jeep würden ihren Fehler
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