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Friesisch Roulette

Friesisch Roulette

Titel: Friesisch Roulette
Autoren: Marvin Entholt
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im Grunde seit Wochen und nicht erst, seit dieser verdammte Putin verschwunden war. Jetzt stand er selbst jedenfalls mitten in der Pampa, mit einem Auto, das nicht mehr fuhr.
    Die Idee, an der Tankstelle ein Auto zu klauen, das mit geöffneter Tür und Schlüssel im Zündschloss dastand, war ihm als geradezu genialer Plan erschienen, für den er sich selbst am liebsten auf die Schultern geklopft und in den Ganovenolymp aufgenommen hätte. Wahnsinnig raffiniert: kein mühseliges Aufbrechen, niemand, der einen beobachten konnte. Einfach den richtigen Moment abpassen, reinspringen, anlassen und weg. Todsicher. Eigentlich.
    Das Einzige, worauf Nicolaj sein Augenmerk vor lauter Begeisterung über den Plan nicht gelegt hatte, war der Umstand, ob der Eigentümer des Wagens bereits getankt hatte.
    Jedenfalls hatte Nicolaj zielsicher das Auto eines Menschen erwischt, der unsinnigerweise vor dem Tanken in die Tankstelle gegangen war, um sich ein Getränk, ein Eis oder etwas anderes vollkommen Überflüssiges zu kaufen.
    So war Nicolaj mit quietschenden Reifen mit einem Ford Focus davongebraust, der noch genau drei Komma vier Liter Diesel im Tank hatte. Die waren nach achtunddreißig Komma sieben Kilometern aufgebraucht. Der Wagen begann zu zuckeln und zu ruckeln, Nicolaj rührte mit der Schaltung und klopfte aufs Armaturenbrett. Aber es half alles nichts, der Wagen rollte langsam und nahezu tonlos aus, nachdem der Motor den Dienst quittiert hatte, das hohe Gras an der rechten Straßenböschung machte ein leises, schleifendes Geräusch an der Karosserie.
    Als Nicolaj die Tür öffnete, hätte er vor lauter Stille um sich herum die Lerche hören können, die weit über ihm in der Luft stand und sang – wenn Nicolaj denn in dem Moment Sinn und Aufmerksamkeit dafür gehabt hätte.
    Eigentlich war er ein großer Naturfreund, aber seine Laufbahn hatte ihn immer weiter von der Natur fortgetragen, und die Zeiten, in denen er Lachs fischen ging, abends Feuer machte und auf den Fluss vor seinem Heimatdorf schaute, schienen aus einem anderen Leben zu stammen.
    Nun war er also hier, keine Lachse weit und breit und, im Moment viel schlimmer, auch keine Tankstelle. Nicolaj konnte sehen, so weit das Auge reichte, in der Ferne ein paar Häuser, Kühe, alles mehr oder weniger stecknadelkopfgroß, also ziemlich weit weg.
    Er hatte immer geglaubt, in seiner Heimat sei alles unendlich weitläufig gewesen, aber dieser Landstrich stand seinem Zuhause darin nicht nach: nichts, was dem Blick bis zum Horizont ernstlich Halt oder Widerstand geboten hätte. Hier und dort große Bäume, die aber winzig wirkten, noch winzigeres Gebüsch, hingetupfte Kühe, Zäune und ziemlich viele Gräben, aber das alles verlor sich vollkommen unter dem Phänomen, das er seit seiner Kindheit kannte: dass der Himmel unendlich viel größer war als das Land, über das er sich spannte.
    Nicolaj riss sich aus seinen melancholischen Betrachtungen. Es half alles nichts. Er schnappte sich seinen kleinen Koffer vom Beifahrersitz, warf die Tür des Wagens zu und stapfte die Straße entlang, durchaus in dem Bewusstsein, eine etwas lächerliche Figur abzugeben mit seinem Köfferchen auf einer gottverlassenen Landstraße, zumal wenn man in Rechnung stellte, dass er sich selbst eigentlich als aufstrebende Größe in der organisierten Kriminalität verstand, geradezu als künftigen Paten, auch wenn die Organisation noch am Anfang stand.
    Ziemlich am Anfang.

4
    Johann beschloss, sich den Schaden bei Siedenbiedel aus der Nähe anzusehen. Vielleicht würde ihn das ja schlauer machen, was den unbekannten Toten in seiner Scheune anbelangte.
    Viel Hoffnung hatte er zwar nicht, aber irgendetwas zog ihn dennoch zu Siedenbiedels Laden. Schließlich hatte er ja sonst keinerlei Anhaltspunkte, und so einfach zu seiner lieb gewonnenen Tagesordnung übergehen, wenn er gerade eine Leiche verscharrt und eine Mordwaffe entsorgt hatte, das konnte Johann dann doch nicht.
    Seine Tagesordnung bestand überwiegend aus perfektioniertem Müßiggang. Was er zum Leben benötigte, gaben seine Hühner und der geduldige Boden her. Nur wenn er etwas anderes brauchte, radelte er zu Siedenbiedel. Und heute brauchte er eben ein paar Hinweise.
    Johann erreichte das Dorf. Er passierte das Ortsschild von Merschmoor, das sich in einem ähnlichen Winkel neigte wie die vom Wind in Jahrzehnten
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